Das sechste Rentier 🦌 | eine Weihnachtsgeschichte

Das sechste Rentier - eine Weihnachtsgeschichte
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Es war die Zeit, da hoch im Norden die Nächte länger und dunkler wurden und die Tage kürzer. Am Himmel zeigten sich die Nordlichter und die Kälte kündete vom nahen Winter.

Im Hause des Weihnachtsmannes herrschte Hochbetrieb. Der Schlitten wurde auf Vordermann gebracht und die Rentiere bekamen neues wunderschön geschmücktes Geschirr anprobiert. Sechs Rentiere freuten sich auf die lange Reise zu all den vielen Kindern, die sehnsüchtig auf den Weihnachtsmann und ihre Geschenke warteten.

In der ersten Reihe liefen Bobo und Jacko, dahinter kamen Fred und Franz, danach folgten Otto und Willi, die jüngsten, die jetzt erst im dritten Jahr vom Weihnachtsmann auserwählt waren, den Schlitten mit zu ziehen. Doch da gab es einen, der nicht ganz so glücklich war. Ja, das war Willi. Neben Willi lief Otto stolz und erhaben auf der Seite des Schlittens, von wo aus man all die schön geschmückten Häuser der Menschen sehen konnte. Willi gehörte zu der Seite, von der man sehr wenig und eigentlich nur den dunklen Himmel sehen konnte und das gefiel Willi gar nicht. Die Monate vor dem großen Fest schon hatte Willi versucht Otto dazu zu bringen, mit ihm den Platz zu tauschen, doch Otto hatte immer auf die feste Regelung verwiesen, vorne Bobo und Jacko, dahinter Fred und Franz, hinter Fred Otto und hinter Franz eben Willi, basta. Nachdem von den Weihnachtswichteln, die hinter den sieben Bergen in sieben kleinen Bettchen schliefen, aus sieben kleinen Becherchen tranken, von sieben kleinen Tellerchen aßen und ihre Suppe mit sieben kleinen Löffelchen löffelten, all die vielen Geschenke zusammen mit dem Weihnachtsmann und seiner Frau gepackt und dann auf dem Schlitten aufgeladen waren, war die Zeit gekommen, loszufahren.
Der Weihnachtsmann prüfte noch einmal, ob seine Rentiere alle an ihrer Stelle standen, die Päckchen gut verstaut waren, bekam von seiner Frau die große Liste all der Kinder, die sie beschenken wollten und noch einen Abschiedskuss, dann setzte er sich auf den Schlitten, rief laut „HoHoHo“ und „Hüü“ und mit einem kräftigen Ruck setzte sich der Schlitten in Bewegen.

Die Weihnachtsfrau winkte mit ihrem weißen Taschentuch und die Weihnachtswichtel schwenkten ihre roten Mützchen. Die Reise ging durch dunkle Wälder, über verschneite Berge und Wege. Irgendwann gab es eine kleine Rast, die Rentiere sollten ein wenig verschnaufen und der Weihnachtsmann musste mal in die Büsche, er hatte vor der Reise wieder einmal zu viel Kaffee getrunken. Die Rentiere waren losgebunden und durften ein wenig im Schnee scharren und die leckeren Grasflechten futtern.
Der Weihnachtsmann rief erneut „Hohoho“, das war das Zeichen, dass es weitergehen sollte und so kamen die Rentiere wieder zum Schlitten und ließen sich anbinden.

Doch halt, was war denn das, da blieb ein Platz leer. Fünf Rentiere waren angetreten zum Aufsatteln, doch waren es nicht sechs?
Der Weihnachtsmann rief „Bobo?“
„Ja hier“, erschallte es aus der Dunkelheit.

Der Weihnachtsmann rief: „Jacko“, „Ja, hier“, schallte es zurück, der Weihnachtsmann rief „Fred“, „Hier“ ertönte es, der Weihnachtsmann rief „Franz“, „Jawoll, bin da“, der Weihnachtsmann rief „Otto“, „Jo, bin hier“ und der Weihnachtsmann rief: „Willi“, aber es kam keine Antwort.

Willi war nicht da, Willi war weg. Erst herrschte eine peinliche Stille, dann schnaubte nicht nur der Weihnachtsmann, auch die 5 Rentiere schnaubten hörbar und ziemlich ungehalten, das bedeutete Aufschub und die ganze Aktion würde länger dauern, was wiederum bedeutete, sie mussten Überstunden machen. Also rannten alle durcheinander, rannten hierhin und dorthin und riefen laut „Willi“. Doch es kam keine Antwort. Ratlos schaute der Weihnachtsmann in die Runde.

„Was ist hier los?“ „Ein Bär“, rief Fred und begann zu zittern, „Ein Wolf“, schrie Otto und stellte sich hinter den Weihnachtsmann, „Eine Falle“, flüsterte Jacko ängstlich.

Und so entschloss man sich mutig auf die Suche zu gehen. Alles stapfte durch den hohen Schnee und sie hatten Glück, die Nordlichter halfen bei der Suche mit und selbst der Mond hatte Mitleid mit der kleinen Gesellschaft und vor allem mit all den vielen Kindern, die auf ihre Geschenke warteten und strahlte in vollem Glanz die Lichtung an.

Der Schnee schimmerte hell zwischen den Bäumen und endlich entdeckte man Hufabdrücke dort, wo die Suchmannschaft noch nicht herum gewuselt war.

„Hier, alles hierher, hier sind Spuren“, rief Bobo.

Im Gänsemarsch folgte man den Hufabdrücken und, ja da stand er, der Willi und sah der Suchmannschaft entgegen. „Willi“, rief der Weihnachtsmann ächzend und nach Luft schnappend, der rote Mantel und die Kapuze waren zwar warm und mollig für die Kutsche, aber eben zu warm für einen unfreiwilligen Marsch durch den Wald.

„Willi, was machst du denn für Sachen, Junge, wir haben schon mit dem Schlimmsten gerechnet“.
„So, so, aha, warum“, fragte Willi bockig.
„Wie, wieso, wir dachten an Bären, an Wölfe, an Fallen, an Jäger, was soll das denn?“
„Ich mag nicht mehr an meinem Platz laufen“, sagte da Willi plötzlich und seine Stimme hörte sich gar nicht mehr bockig, sondern eher traurig an.
„Ich sehe ja gar nichts von der Menschenwelt, nach vorn kann ich nichts sehen und durch Otto kann ich auch nicht hindurchsehen und so renne ich nur und renne, dann stoppt der Schlitten, ruck zuck sind die Geschenke abgeladen und schon geht es weiter, ich möchte einmal, einfach einmal nur ganz vorne ziehen, da hinten macht das keinen Spaß.“
Der Weihnachtsmann kratzte sich am Kopf, die Mütze in der Hand.
„Aber Willi, wir haben doch nun schon seit Jahren die gleiche Reihenfolge, jeder hat hinter dem Schlitten seinen festen Platz, da gibt es kein Vertun, alles hat seinen Grund, alles seine Regel, alles seinen Sinn“.
„Wir können doch jetzt nicht einfach so alles ändern, wo kämen wir denn da hin?“
Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Nein, das ging ja doch zu weit, alles hatte er genau geregelt, genau nach der Größe und der Kraft seiner Rentiere hatte er die Reihenfolge bestimmt, in der gleichen festen Reihenfolge kamen die vielen Päckchen in den Schlitten, zu immer der gleichen Zeit ging es los, immer die gleichen Wege entlang von Haus zu Haus. Und jetzt kam da einfach so ein Rentier auf die Idee, alles umzuschmeißen.
Doch Willi schüttelte nur traurig den Kopf: „Weihnachtsmann, Weihnachten ist doch ein Fest der Freude, aber mal ehrlich, wie kann ich mich freuen, wenn ich von all der Freude gar nichts zu sehen bekomme?“ Es war ganz still im Wald, der Mond leuchtete noch immer über der Lichtung und auch die Nordlichter tanzten den Himmel entlang. Und während der Weihnachtsmann langsam kopfschüttelnd zum Schlitten stapfte, steckten die anderen Rentiere die Köpfe zusammen. Ein Murmeln ging durch den Winterwald.

„Weihnachtsmann“, rief Bodo den Weihnachtsmann zurück, „Weihnachtsmann, bleib doch mal stehen, meinst du nicht, man könne mal so eine Regel ändern?“ „Wie meint ihr das?“
„Also wir wären bereit dazu, Willi kann vorn an meine Stelle, und ich gehe einfach nach hinten“.
„Ich tausche auch“, rief da Fred und Franz schrie: „Ich sowieso“ und Yacko rief leise: „Ich möchte, dass Willi glücklich ist, er kann auch mit mir tauschen“.
Und nachdem sie sich alle fest vorgenommen hatten, nunmehr jedes Jahr einmal alle die Plätze zu tauschen, und an diesem Weihnachten Willi ganz vorn ziehen durfte, ging es weiter und alle legten sich mächtig ins Zeug, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen, besonders Willi brachte das „HoHoHo“ und „Hüü“ vom Weihnachtsmann richtig in Schwung. Regeln sind sicher wichtig, aber manchmal kann man auch damit Freude bereiten, so eine Regel ein klein bisschen zu lockern.

Gudrun Kniep 

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