Der Vogel Bulbulis – Lettisches Zaubermärchen von Verwandlung, Verrat und Erlösung

🤖 Fragen zum Nachdenken:
Liebe ist ein Gefühl, das viele Facetten hat – von Zärtlichkeit bis Hingabe. Dieser Spruch lädt dazu ein, sie neu zu fühlen.

Märchen aus Lettland gehören zu den eher unbekannten Schätzen Europas. Eines der schönsten Zaubermärchen ist die Geschichte vom Vogel Bulbulis, einem geheimnisvollen Wunschvogel, der über Schicksale entscheidet. Dieses Märchen erzählt von drei Königssöhnen, von Mut und Verrat, von Verwandlungen in Bäume und von der Kraft der Wahrheit.


Vollständiger Märchentext

(Quelle: H. Angarowa, L. Labas, „Märchen von der Bernsteinküste“, Moskau 1974)

Ich hasse Menschen

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Es herrschte einmal ein König in einem Reich, der hatte drei Söhne. Die bekamen nun eines Tages Wind davon, dass der König eines anderen Reiches, des neunten hinter dem ihren, einen seltsamen Vogel besass, der jeden Wunsch erfüllte. Jener Vogel lebte in einem goldenen Käfig, der in einem Garten an einer dreiwipfeligen Linde hing. Und jeden Abend kam der Vogel für die Nacht in seinen Käfig geflogen. Doch das Eigentümliche war, dass er an einer Kralle seines linken Fusses ein Ringlein trug. Wer ihm das Ringlein abzog, der war Herr über den Vogel. Viele hatten sich schon aufgemacht, den Ring zu gewinnen, doch keiner hatte ihn gewonnen.
Die drei Königssöhne fassten den Entschluss, ebenfalls ihr Glück zu versuchen. Zuerst der Älteste. Er sattelte sein Ross, packte den Quersack. Auch seine Brüder sattelten ihre Pferde und ritten mit ihm bis zur Brücke. Dort sass der Älteste ab. Mit seinem Schwert hieb er drei Kerben ins Brückenholz. Darauf hiess er die Zurückbleibenden, jeden Tag nachzusehen. Solange die Kerben weiss blieben, durften sie ruhig sein. Färbten sich die Kerben jedoch blutrot, bedurfte er der Hilfe, und seine Brüder sollten zu ihm eilen.
Am neunten Tag ritt der älteste Bruder in jenem Königreich ein. Ritt stracks zum König und gab ihm zu wissen, er sei wegen des Vogels gekommen. Der König schüttelte nur gedankenvoll das Haupt.
„Aber wie willst du es anfangen? Dieser Vogel ist kein anderer als der Vogel Bulbulis. Viele Brave haben schon ihr Heil versucht, viele werden ’s noch versuchen, doch bisher ohne Erfolg.“
Der Älteste ließ sich sein Vorhaben nicht ausreden.
„Komme, was kommen muss, ich mach’s.“ Schön. Bei sinkender Sonne begab sich der Älteste in den Garten, schaute nach der Linde mit den drei Wipfeln aus.
Schaute hierhin, schaute dorthin – keine Linde.

Steckte schliesslich den Kopf durchs Birkengestrüpp – da stand sie! Erfreut zwängte er sich durchs Gewirr der Zweige. Auf einer kleinen Lichtung inmitten von ungewöhnlich hohem und dichtem Gras erhob die Linde ihre drei Wipfel. Nichts durchbrach die tiefe Stille, denn der Vogel war noch nicht da. Der älteste Bruder versteckte sich im hohen Gras und wartete. Plötzlich füllte sich der Garten mit Zwitschern und Flöten, als ob Tausende und aber Tausende Vögel sängen. Der Vogel Bulbulis nahte. Er liess sich auf seinem goldenen Käfig nieder, spähte in die Runde und sprach mit klagender, ach, so klagender Stimme:
„Alles schläft. Gibt es denn keine Seele, die zu mir sagt: ‚Vogel Bulbulis, leg dich auch schlafen.‘ „
Der älteste Bruder dachte: ‚Fehlt dir nur das, so kann dir geholfen werden.‘ Und er sagte vernehmlich: „Geh, leg dich schlafen, Vogel Bulbulis!“
Kaum war’s von seinen Lippen, schlug der Vogel Bulbulis mit seinem Flügel nach ihm, und siehe, der älteste Bruder stand als Birke da.

Anderntags kamen die beiden Brüder zur Brücke und fanden die Kerbe blutrot. Ohne Säumen machte sich der mittlere Bruder reisefertig und ritt in scharfem Trab zu jenem neunten Königreich, um seinen Bruder zu suchen. Kam hin und erhielt vom König Bescheid, sein Bruder sei in den Garten zum Vogel gegangen, doch von dort nicht zurückgekehrt. Der mittlere Bruder eilte flugs in den Garten. Suchte hier, suchte dort, fand weder den Älteren noch die Linde. Am Ende steckte er den Kopf durchs Birkengestrüpp – da sah er die Linde stehen, doch nirgends sah er den Bruder. Nun versteckte sich der mittlere Bruder im hohen Gras und wartete. Um ihn war tiefe Stille. Die Sonne sank. Auf einmal füllte sich der Garten mit Zwitschern und Flöten, wie wenn Tausende und aber Tausende Vögel sängen. Der Vogel Bulbulis kam angeflogen. Er liess sich auf seinem goldenen Käfig nieder, spähte nach allen Seiten und sprach mit klagender, ach, so klagender Stimme:
„Alles schläft. Gibt es denn keine Seele, die zu mir sagt: ‚Vogel Bulbulis, geh, leg auch du dich schlafen.‘
Der mittlere Bruder schwieg. Nach einer Weile hub der Vogel neuerlich an:
„Alles schläft. Nur ich kann nicht schlafen. Gibt es denn keine Seele auf Erden, die die paar Wörtchen zu mir spricht: ,Vogel Bulbulis, geh schlafen.‘ „
Von diesen Worten wurde dem mittleren Bruder das Herz weich. Er sagte: „Vogel Bulbulis, geh schlafen.“
Im gleichen Augenblick schlug ihn der Vogel Bulbulis mit seinem Flügel, und siehe, er stand als Birke da.

Frühmorgens ritt der jüngste Bruder zur Brücke. Die Kerbe fand er voll Blut. Sofort machte er sich auf den Weg und jagte in jenes neunte Königreich, um seine Brüder zu finden. Kam angetrabt und erhielt vom König die Auskunft, jawohl, seine Brüder seien dagewesen, doch aus dem Garten nicht zurückgekehrt. Nun begab sich auch der Jüngste in den Garten, suchte hier, suchte dort, sah weder seine Brüder noch die Linde mit den drei Wipfeln. Steckte schliesslich den Kopf durchs Birkengestrüpp, da stand die Linde. Aber keine Brüder waren zu sehen, nur das zerdrückte Gras. Auch der Jüngste kauerte sich ins Gras, doch so nahe am goldenen Käfig, dass er mit der Hand danach greifen konnte, und wartete. Tiefe Stille ringsum. Die Sonne sank. Auf einmal war ein Zwitschern und Flöten im Garten wie von tausend und aber tausend Vogelstimmen. Der Vogel Bulbulis kam. Auf dem goldenen Käfig liess er sich nieder, spähte umher und sprach mit klagender, ach, so klagender Stimme:
„Alles schläft, gibt es denn keine Seele, die zu mir sagt: ‚Vogel Bulbulis, geh schlafen.‘ „
Der jüngste Bruder schwieg. Nach einer Weile begann der Vogel Bulbulis aufs neue zu jammern:
„Alles schläft, nur ich nicht. Gibt es denn keine Seele auf Erden, die zu mir sagt: ,Vogel Bulbulis, geh schlafen.‘ „
Der jüngste Bruder tat nicht den Mund auf. Abermals verging eine kleine Weile, da begann der Vogel Bulbulis bitterlich zu weinen. Er schluchzte und stöhnte:
„Alles schläft, nur ich vermag kein Auge zu schliessen. Gibt es denn keine fühlende Seele, die die paar Wörtchen zu mir spricht: ,Vogel Bulbulis, schlaf auch du.‘ “

Der jüngste Bruder hielt es schier nicht mehr aus, länger zu schweigen. Schon wollten ihm die erbetenen Worte von der Zunge, da hatte der Vogel Bulbulis glücklicherweise von seinem Klagelied genug, er schlüpfte in den goldenen Käfig. Im selben Augenblick merkte der jüngste Bruder, dass er gut daran getan hatte, den Mund zu halten. Im Käfig hielt der Vogel Bulbulis nochmals argwöhnisch Ausschau. Aber da er niemand in der Nähe gewahrte, steckte er den Kopf untern Flügel und schlief seelenruhig ein.

Auf leisen Sohlen schlich der jüngste Bruder hinzu und griff durch die Käfigtür nach dem Ringlein. Mit der rechten streifte er den Ring von der Kralle des linken Vogelfusses, mit der linken Hand klappte er, wups! die Käfigtür zu. Der Vogel Bulbulis schreckte hoch. Wild mit den Flügeln schlagend, flatterte er hin und her, stiess mit den Füssen, sprang in die Höhe und schrie. Lange raste er so im Käfig, erst gegen Morgen beruhigte er sich. Liess den Kopf hängen und sagte: „Du hast mir den Ring abgezogen, nun bin ich dir hörig.“
„Sag, Vogel Bulbulis, wo sind meine Brüder?“ „Dort, die beiden Birken neben dir, das sind sie!“ „Und die andern Birken, sprich, was sind sie für Geschöpfe ?“
„Auch Menschen.“
„Sag, Vogel Bulbulis, was muss geschehen, um sie wieder zu Menschen zu machen?“
,,Geh tiefer in diesen Birkenhain und sperre deine Augen gut auf, du wirst einen Sandhaufen finden. Von diesem Sand nimm drei Handvoll und streue sie auf jede Birke, dann wird sie wieder ein Mensch.“

Schön. Zuerst belebte der Jüngste natürlich seine Brüder. Und die halfen ihm ihrerseits, die übrigen zum Leben zu erwecken. Doch auch zu dritt kamen sie mit der vielen Arbeit nicht zu Rande, und die Neubelebten halfen ihnen Sand schleppen. Immer mehr Birken verschwanden, immer rascher lichtete sich der Hain, und der Garten war alsbald von einem lebhaften Menschengewimmel erfüllt. Alles drängte sich freudestrahlend um den jüngsten Bruder. Doch der wollte den Geretteten noch eine andere grosse Freude bereiten. Er bat den Vogel Bulbulis, noch einmal wie am Abend zuvor zu singen. Und der Vogel tat ihm den Gefallen. Das war ein herrlicher Gesang!

Drei Tage später zog ein jeder seines Wegs. Die Brüder wandten sich heimwärts, die anderen nach andern Landen. Und so wanderten denn die drei Brüder am Meeresufer entlang. Wacker schritten die Älteren aus, der Jüngste aber war ermattet. Er legte sich in den Sand, und bald war er eingeschlafen. Wie ihn die Brüder so schlafen sahen, kamen sie rasch überein, ihm den Vogel zu rauben, ihn selber aber, ihren Retter, in die Meereswogen zu werfen. Wie gedacht, so getan! Wohl erbeuteten die Unholde den Vogel, doch nicht das Ringlein, das am Finger ihres jüngsten Bruders steckte. Als sie nun zum Vater kamen, brüsteten sie sich sehr, wie beschwerlich es ihnen gewesen, den Vogel Bulbulis zu erringen. Wo aber ihr jüngster Bruder geblieben, das, sagten sie, wüssten sie leider nicht. Natürlich hofften sie, der Vogel Bulbulis würde ihnen viel Güter herbeizaubern . Doch da sie den Ring nicht hatten, gehorchte der Vogel ihnen nicht. Was sie ihm auch befahlen, trübselig hockte er da und liess den Kopf hängen.

Die Zeit verging. Die älteren Brüder lebten bei ihrem Vater, von keinen Gewissensbissen geplagt. Der alte Vater aber dachte oft an seinen liebsten Jüngsten. Er vergoss heisse Tränen und bereute sehr, daß er ihn hatte ziehen lassen. Doch was half es? Nur härmte sich der alte Vater grundlos, denn sein liebster Sohn war nicht in den Meereswellen ertrunken. Nein, die hatten ihn ins herrliche Bernsteinschloss der Meereskönigin getragen. Der schmucke junge Mann gewann ihr Herz, die beiden schlossen die Ehe und waren glücklich. Doch eines Tages erzählten die Seejungfern, sie hätten den alten König laut weinen hören.

Von Mitleid ergriffen, beschloss der Sohn, für etliche Tage sein schönes Schloss zu verlassen, um seinen alten Vater zu erfreuen. Er rieb den Ring des Vogels Bulbulis, und bevor noch eine Sekunde um war, hatte der sich in eine goldene Brücke verwandelt, die vom Bernsteinschloss geradewegs zum Palast des Königs führte.

Wie der alte Vater nun seinen jüngsten Sohn heil und wohlbehalten sah, wusste er sich vor Freuden nicht zu fassen. Der Vogel Bulbulis aber begann zu singen. Und er sang dem alten König vor, was die Brüder dem Jüngsten angetan hatten. Die fielen in die Knie vor ihrem Vater und ihrem Erretter und flehten um Vergebung. Der jüngste Bruder hatte ein weiches Herz. Er vergab den Übeltätern und bat den Vater, dass auch er ihnen vergebe.
Drei Tage weilte der Jüngste im Palast seines Vaters zu Gast. Am vierten, morgens, als sich die Sonne erhob, nahm er den Vogel Bulbulis und kehrte mit ihm ins Bernsteinschloss zurück. Das Tor des Bernsteinschlosses tat sich vor ihm auf, und im selben Augenblick wurde die goldene Brücke wieder zum Ringlein.


Bedeutung und Symbolik des Märchens

Die Hauptthemen

  • Der Zaubervogel Bulbulis: ein magisches Wesen, das Wünsche erfüllen kann und als Prüfstein für Mut und Standhaftigkeit dient.
  • Die Brüder: Zwei sind schwach und verräterisch, einer zeigt Geduld und Stärke – ein typisches Motiv vieler europäischer Zaubermärchen.
  • Die Verwandlung in Bäume: Bäume stehen in Märchen oft für Schicksal, Erstarrung und Hoffnung auf Erlösung.
  • Das Bernsteinschloss: Symbol für kostbare Schätze, Reinheit und Glück – typisch für Märchen aus dem Baltikum.

Die Moral

  • Geduld und Schweigen können mehr bewirken als vorschnelles Handeln.
  • Verrat bringt keinen Gewinn, Wahrheit und Liebe dagegen dauerhafte Erlösung.
  • Vergebung ist stärker als Rache – selbst wenn das Herz verletzt wurde.

Häufige Fragen zum Märchen Der Vogel Bulbulis

Was ist der Vogel Bulbulis?
Der Vogel Bulbulis ist ein zauberhafter Wunschvogel, der in einem goldenen Käfig lebt. Er trägt einen Ring, mit dem man Macht über ihn erhält.

Warum verwandeln sich die Brüder in Birken?
Weil sie auf die klagenden Worte des Vogels reagieren und ihm Trost spenden. Nur der Jüngste bleibt standhaft und entgeht der Verwandlung.

Welche Rolle spielt das Bernsteinschloss?
Es ist der Zufluchtsort des jüngsten Bruders, nachdem ihn seine Brüder verraten haben. Die Meereskönigin rettet ihn und schenkt ihm ein neues Leben.

Welche Botschaft vermittelt das Märchen?
Es zeigt, dass Mut, Klugheit und Standhaftigkeit zum Erfolg führen – und dass Vergebung das Herz größer macht als Rache.

Für wen ist das Märchen geeignet?
Das Märchen ist für Kinder ebenso spannend wie für Erwachsene, die sich für osteuropäische Märchen und Zaubergeschichten interessieren.


Fazit

Das lettische Zaubermärchen „Der Vogel Bulbulis“ verbindet klassische Märchenmotive – den magischen Vogel, die Verwandlung, den Verrat der Brüder – mit regionalen Symbolen wie dem Bernsteinschloss. Es ist eine Geschichte über Mut, Geduld und die Kraft der Vergebung. Märchenliebhaber finden hier ein leuchtendes Beispiel dafür, wie tief Volksmärchen Weisheiten über das Leben vermitteln.

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