| |

Ein Tisch ist ein Tisch – Peter Bichsel

🤖 Fragen zum Nachdenken:
Mut zeigt sich oft im Kleinen – wenn wir weitermachen, obwohl wir Angst haben. Genau das spricht dieser Spruch an.

„Ein Tisch ist ein Tisch“ von Peter Bichsel ist mehr als nur eine Kurzgeschichte. Sie zeigt auf spielerische Weise, wie unsere Wahrnehmung von der Sprache und den Bedeutungen geprägt wird, die wir Dingen geben. Für Menschen, die nach Inspiration, Lösungen oder neuen Perspektiven in schwierigen Situationen suchen, bietet diese Geschichte überraschende Einsichten: Manchmal reicht ein Perspektivwechsel, um die Welt anders zu sehen und neue Möglichkeiten zu entdecken.


Die Geschichte (vollständig)

Ich will von einem alten Mann erzählen, von
einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein
müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu
müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen
Stadt, am Ende der Straße oder nahe der
Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu
beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von
anderen. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen,
einen grauen Rock und im Winter den langen
grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals,
dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen
Hemdkragen sind ihm viel zu weit. Im obersten
Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht
war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht
wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt
war er einmal ein Kind, aber das war zu einer
Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen
waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der
Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle,
ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank.
Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker,
daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum,
an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.

Der alte Mann machte morgens einen
Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang,
sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und
abends saß er an seinem Tisch.
Das änderte sich nie, auch sonntags war das so.
Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er
den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag,
einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt,
mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten,
mit Kindern, die spielten – und das besondere
war, dass das alles dem Mann plötzlich gefiel.
Er lächelte.
„Jetzt wird sich alles ändern“, dachte er.
Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut
in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte
sogar beim Gehen in den Knien und freute sich.
Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu,
ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm
die Schlüssel aus der Tasche und schloss sein
Zimmer auf.

Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch,
zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte,
hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war
vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den
Mann überkam eine große Wut. Er sah im
Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die
Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände
zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die
Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch
einen, und dann begann er auf den Tisch zu
trommeln und schrie dazu immer wieder:
„Es muss sich etwas ändern.“

Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann
begannen seine Hände zu schmerzen, seine
Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder,
und nichts änderte sich.
„Immer derselbe Tisch“, sagte der Mann, „dieselben
Stühle, das Bett, das Bild.
Und zu dem Tisch sage ich Tisch, zu dem Bild
sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl
nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?“

Die Franzosen sagen zu dem Bett „li“, zu dem
Tisch „tabl“, nennen das Bild „tablo“ und sie
verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.
„Warum heißt das Bett nicht Bild“, dachte der Mann
und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die
Nachbarn an die Wand klopften und „Ruhe“ riefen.
„Jetzt ändert es sich“, rief er, und er sagte von
nun an zu dem Bett „Bild“.

„Ich bin müde, ich will ins Bild“, sagte er,
und morgens blieb er oft lange im Bild liegen
und überlegte, wie er nun zu dem Stuhl sagen
wolle, und dann nannte er den Stuhl „Wecker“.
Hier und da träumte er schon in der neuen Sprache,
und dann übersetzte er die Lieder aus seiner
Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise
vor sich hin.

Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den
Wecker und stützte die Arme auf den Tisch.
Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er
hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der
Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den
Teppich auf den Wecker und überlegte, zu
wem er wie sagen könnte.

Zu dem Bett sagte er Bild.
Zu dem Tisch sagte er Teppich.
Zu dem Stuhl sagte er Wecker.
Zu der Zeitung sagte er Bett.
Zu dem Spiegel sagte er Stuhl.
Zu dem Wecker sagte er Fotoalbum.
Zu dem Schrank sagte er Zeitung.
Zu dem Teppich sagte er Schrank.
Zu dem Bild sagte er Tisch.
Und zu dem Fotoalbum sagte er Spiegel.

Am Morgen blieb der alte Mann lange im
Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann
stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an
den Füßen fror, dann nahm er seine Kleider aus der
Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand,
setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich, und
blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch
seiner Mutter fand.

Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag
und prägte sich die neuen Wörter ein.
Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann
mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen
und der Morgen ein Mann.

Schlussgedanken:
Die Geschichte zeigt, dass Perspektivwechsel, Kreativität und die Macht der Sprache unser Leben verändern können. Auch wenn sich äußerlich nichts verändert, kann ein kleiner Schritt – wie das Umbenennen der Dinge – das Denken, Fühlen und Handeln grundlegend beeinflussen. Für Menschen, die nach Lösungen, Inspiration oder neuen Denkweisen in schwierigen Situationen suchen, ist dies eine Erinnerung: Manchmal liegt der Schlüssel zum Wandel in kleinen, unerwarteten Aktionen.

✨ Entdecke weitere Themen

Hier findest du weitere inspirierende Inhalte aus anderen Kategorien:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert