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😅 Eine humorvolle Geschichte aus dem 19. Jahrhundert: 👚 Bluse kaufen | Tante Dorchen und ich

Eine lustige Kurzgeschichte: Bluse kaufen
Eine lustige Kurzgeschichte: Bluse kaufen

Ich hätte nein sagen sollen oder dass ich etwas vor hätte, als mich meine Tante Dorchen Faßbender am Eingang des amerikanischen Riesen-Warenhauses mit Beschlag belegte und mich bat, sie zu begleiten: sie müsste sich nur eben eine Bluse kaufen, erklärte sie obenhin.
Eine Bluse kaufen, das war ja schließlich eine einfache und schnell erledigte Sache, dachte ich mir und ging mit. Außerdem hatte die Tante mir schon häufiger Rechnungen meines Schneiders bezahlt, das war entsprechend zu beachten.

Der Scharfsinn eines Indianers gehört dazu, um sich in einem modernen Warenhaus zurechtzufinden und noch zu Lebzeiten den begehrten Gegenstand zu kaufen. Die Tante sagte, sie wisse Bescheid, und drängte sich durch die Menge, die sich in den Gängen zwischen den Verkaufsständen hin- und herschob. Sie trat energisch auf sie hindernde Füße und stieß Langsame mit der Krücke ihres Zanellaschirmes verstohlen in den Rücken.
»Da drüben bekommen wir das Gewünschte«, sagte sie mit Bestimmtheit. Ich vertraute der Tante. Wir schoben nach drüben.
Wir blieben einen Augenblick am Verkaufsstand für Emaille Geschirr stehen. »Was darf’s sein?« fragte verbindlich ein rotbackiges Fräulein.
»O, wo finde ich Blusen?« erkundigte sich die Tante, die scheinbar doch nicht so ganz Bescheid wusste.
»Bitte, erste Etage, Aufzug«, war die Antwort. Die Tante zog vor, die Treppe zu benutzen, aus Vorsicht. Es sei einmal ein junger Mann im Aufzug zerquetscht worden. Diese Legende geht von jedem Aufzug.
»Blusen – bitte rechts und dann links«, wies uns ein Herr in mittleren Jahren, den man Herr Markuse nannte und der scheinbar eine Rolle spielte. Wir waren geschmeichelt und gingen in die bezeichnete Richtung.
»Nein, nein, nein«, schrie die Tante plötzlich unwillig, als sie an dem gesuchten Stand von Blusen ankam und die Auslagen musterte. »Ich will keine fertige Bluse, ich will Stoff für eine Bluse, im Haus zu nähen. Da steht man sich billiger«, raunte sie mir erklärend zu.
Ich fand das sehr unangebracht, so eine Bluse erst mal mit großen Umständen zu nähen, wo man sie doch hier fix und fertig zum Anziehen kaufen konnte. Überhaupt bereute ich ein wenig meine Bereitwilligkeit, die Tante zu diesem Blusenkauf zu begleiten.
»Ah, Stoff für eine Bluse für die Dame?« sagte verstehend Herr Markuse, der uns gefolgt war. »Bitte, bemühen sich die Herrschaften nach der vierten Etage, dort finden Sie, was Sie wünschen.«
Wieder mühselige Treppen, trotz des Asthmas der Tante. Solche Aufzüge bleiben schon mal stecken, dann verhungern die Insassen. Das ist auch so eine Legende, die man sich von jedem Aufzug erzählt.
Natürlich entsprach der Stoff, den man der Tante auf der vierten Etage vorlegte, keineswegs ihren Wünschen und Absichten. Was man ihr da zeigte, war doch Wolle, was für Dienstboten zu Weihnachten, aber nicht für eine Staatsbluse der gnädigen Frau zu gebrauchen war.
»Wolle hält aber doch warm«, meinte ich schüchtern.
»Ist aber nicht schick«, strafte mich die Tante. »Ich will die Bluse für das Zoologische-Garten-Konzert; Frau Bender soll die Platze kriegen«, lachte sie hämisch.
Jetzt kam es heraus; die Tante wollte eine seidene Bluse bzw. den Stoff dazu.
»Da müssen sie sich nach unten bemühen, dort rechts vom Haupteingang, etwa vierzig Minuten weit, ist die Seidenabteilung«, klärte man sie auf. »Dort ist der Aufzug.« Sie begann von der 150 Meter hohen Vierten-Etagen-Treppe den mühevollen Abstieg. Das Seil konnte reißen und der Aufzug herunterrasen und zerschmettern. Das war auch so eine Legende, die die Tante bewog, das gefährliche Vehikel nicht zu benutzen.

Ich sagte leise das kleine Einmaleins auf und berechnete aus dem Wachsen meines Bartes, wie lange wir uns bereits hier in dem Warenhause befanden. Durch das Treppensteigen bekam ich ein müdes Gefühl in den Kniekehlen, wie wenn ich dreimal hintereinander das Matterhorn bestiegen hätte, ein Klavier mit Lehrer im Rucksack.
Tante Dorchen war von der stillen Resignation eines Menschen, der weiß, was er will.
Ich war so zerstreut, daß ich der blondlockigen Verkäuferin der Parfümerieabteilung, wo ich immer meine Seife kaufte, in Gedanken auf das Ohrläppchen küsste.
»Seide dort, Blusenseide dort«, zeigte ein anderer Herr Markuse, der Cohn genannt wurde, auf eine lange Reihe Theken, hinter welchen himmelhohe Regale standen, wie in einer Bibliothek. Die Fächer waren angefüllt mit Stößen von flachen Paketen. Zwischen den Regalen und den Theken waren Fräuleins in Schwarz, nette und weniger nette, mit Scheren an Bändern um den Hals und an der Seite einen baumelnden Abreißblock, eingesperrt. Manche aßen verstohlen aus einem verborgenen Butterbrotpaket. Das durfte Herr Cohn nicht sehen.
Aus dem Gesicht der Tante entnahm ich, daß wir nun endlich am Ziel angekommen waren. Meine Lethargie wich ein wenig. Es war aber noch nicht aller Tage Abend! O, ich Kleingläubiger!
Sobald die Tante kurz den Wunsch nach Blusenseide geäußert hatte, kletterten – husch, husch! – entzückende Lackfüßchen auf gelben Leitern an den Bibliotheksregalen hinauf. Oft blieb der Rock an einer Sprosse hängen, welches Malheurchen ein graziöses Beinchen mir entgegenkommend dekolletierte. Die Tante setzte sich ihre Brille auf, die sie aus einem Lederetui hervorzog. Das Etui machte beim Abziehen des Deckels »Pff«, die Tante setzte die Brille auf, nicht der Beinchen wegen, sondern um den Stoff zu prüfen. Ich putzte meinen Kneifer – hm, hm, ich musste doch der Tante behilflich sein!

Stöße von flachen Paketen warfen die Fräuleins in Schwarz klatschend auf die Theke und entrollten sie zu Streifen Seide in allen möglichen Farben. Dabei priesen sie in überschwänglicher Weise die Ware: »Prima, prima, das beste auf dem Markt, leitest Fäschen, englisch, fabelhafte Verarbeitung, Frau Bankier Safe (sprich: Säw) nahm zehn Meter für eine Robe, doppelte Breite, mit Selfkante (ich kannte nur den Selfmademan, aber keine Kante, die sich selbst machte, aber höchstens die Wasserkante), gut zu verarbeiten und haltbar, Sie glauben es nicht, gnädige Frau!« Immer neue Pakete wurden aufgerollt. Ein Meer von Farben ergoss sich über die Theke. Die Tante war in fieberhafter Tätigkeit, ihr sonst bleiches Gesicht war hektisch gerötet, die Warze an der Nase war zu einem Apfel angeschwollen, mit zitternden Händen wühlte sie in der Seide, prüfte den Stoff und die Farbe, bat das Fräulein in Schwarz, mit dem betreffenden Stück auf die Straße zu gehen, um die Farben bei Tageslicht beurteilen zu können. Etwa 1200mal lief sie, begleitet von einer Verkäuferin, die immer durch eine neue ersetzt werden musste, da sie haufenweise vor Ermattung zusammenbrachen, die Strecke von der Seidenabteilung bis zum Ausgang. Ich rannte im Anfang getreu als Sachverständiger für Farben mit (ich bin Mitglied des Sonderbundes, Beitrag 10 Mark, war zur Untersuchung im Irrenhaus, weil ich aus mir selber geraten habe, wo auf einem futuristischen Gemälde von Marinetti der Gärtner war), verlor dann aber die Lust zu rennen, nahm mir ein Auto und fuhr neben der Tante hin und her.
Die Tante konnte sich nicht schlüssig werden. Wie unter einem unerbittlichen Schicksal raste sie hin und her, den armen Verkäuferinnen zum Verderben. Die Haarnadeln der Tante waren weißglühend.
Alle Farben der Welt zogen vorbei, nur kein Blau, was die Tante von vornherein nicht wünschte. Nun fiel ihr ein, dass es ein bestimmtes Blau gebe, was ihr sehr gut zu Gesicht stände. Ob man dieses Blau habe? Einige der Verkäuferinnen, die aus den Strapazen der Rennerei ihr schwaches Leben gerettet hatten, schleppten sich an die Regale und erklärten mit müden Stimmen, blaue Stoffe seien auf der zehnten Etage. Die Herrschaften möchten sich hinaufbemühen. Ich habe mit dem Nordpolforscher Cook den Mount MacKinley in Lackschuhen bestiegen; jetzt schauderte mir vor der zehnten Etage. Die Tante war nicht zu bewegen, den Lift zu benutzen. Sie machte sich, trotz ihrer geschwollenen Ballen, an den Treppenaufstieg zur zehnten Etage. Ich drückte mich in den Aufzug und war schnell und mühelos bald oben. Drei Wochen später kam die Tante an, die alte eiserne Energie, Stoff für eine Bluse zu kaufen, in den Zügen. Sie erinnerte an Bismarck, wenn er etwas durchsetzen wollte.
Pfadfinder wiesen uns den Weg zum blauen Stoff. Der Stand befand sich 21 Kilometer von der Treppe und dem Lift. Ja, dieses Warenhaus war von enormen Dimensionen; es stellte in seiner bebauten Fläche Elsass-Lothringen in den Schatten.
Es gab etwa zehn verschiedene Blau. Natürlich mussten diese Stücke auch wieder dem Tageslicht ausgesetzt werden. Das hätte Monate gedauert, wenn die Tante die zehn Treppen hin- und her gestiegen wäre. Sie wurde chloroformiert und mit dem Aufzug befördert.
Endlich, es war eine Erlösung, etwa wie der Friedensschluss zu Münster nach dem 30jährigen Krieg um 1648, als die Tante das Blau fand, was ihr so gut zu Gesicht stand. Sie prüfte glättend den Stoff »Taft bricht leicht.« – »Er ist aber doch so dick«, murmelte ich blöde, »der Präsident der Vereinigten Staaten?«
Sie brauchte zwei Meter fünfzig. Eilfertig nahm ein Fräulein in Schwarz einen Zollstock, um dieses Quantum abzumessen. Natürlich war das vorhandene Stück (vom Fachmann Coupon genannt) etwa achtzig Zentimeter zu kurz.
Die Tante stach dem Fräulein eine lange Hutnadel, der Zorn der Elektrischen Bahn-Schaffner, in das linke blaue Auge. Aber es schadete nichts, denn das Auge war aus Glas – Gott sei Dank!
Ich kniete, als das endlich gefundene Stück von der blauen Seide, deren Blau die Tante so gut kleidete, zu kurz war, nieder und bat den Himmel und alle Götter, sie möchten doch die fehlenden achtzig Zentimeter blauer Seide beschaffen. »Nehmen Sie Grün anstatt Blau, Grün ist der Frühling und die Au«, sagte eine belegte Stimme von oben ziemlich gereimt.
Die Tante war, weil es wie eine Offenbarung war, mit Grün nunmehr einverstanden. Man stieg hinab in das Unterhaus, wo die bunten Seiden waren. Nach einem dreiwöchigen Suchen und Prüfen entschloss sie sich für Spinatgrün. Zwanzig Verkäuferinnen lagen tot am Boden, vier Ressortchefs waren völlig pathologisch geworden. Ein Elektrotechniker fraß Glühbirnen.
Die Tante forderte noch rote Seide als Besatz. Tableau! Ich legte mich auf den Boden und biss in die Blasen, die sich im Linoleum des Bodenbelags gebildet hatten. Die Verkäuferinnen flüchteten mit Grauen vor dem Wunsche der Tante. Ich machte mein Testament.
Man probierte. Das Rot passte nicht auf das Grün. Zehn Browningschüsse. Zwei Verkäuferinnen tot.

Vier Jahre später fand man ein passendes Stück roter Seide. Die Verkäuferin, die das Stück fand, war eine Waise. Die Tante schenkte ihr aufgeweichten Lakritz aus der warmen Tasche.
Meine Augen hingen sehnsüchtig an den Lippen der Tante: Der Blusenkauf war beendet, mußte sein Ende gefunden haben. Ich Tor. Ich war ein alter Mann geworden, und ein langer Bart hing mir über die Brust. Die Fräuleins, die die durch die Tante heraufbeschworene Katastrophe überlebt hatten, waren teilweise Urgroßmutter, andere Großmutter.
Der Schlag soll mich treffen! Die Tante öffnete ihr karätiges Gebiss und stieß das eine kurze, knallende Wort wie einen gellen Flintenschuss hervor: »Knöpfe!«
Der Schlag traf mich nicht. Ich war verblödet und erwartete nichts anderes. Mein Bart wuchs mir in die Stiefel.
Knöpfe waren auf der achten Etage. Nach zwei Wochen krochen 400 Angestellte des amerikanischen Warenhauses auf dem Boden der achten Etage wie Ameisen, auch unter die Schränke, um die wie Konfetti auf der ganzen Etage fußhoch durch das hysterische Herumwerfen der Kartons und durch das Platzen der Böden auf die Erde gefallenen Knöpfe aufzulesen.
Die Tante trieb Nägel durch die Ösen bestimmter Knöpfe und nagelte sie auf die stramme Uniformbrust eines Liftboys fest. So konnte sie sehen, wie die Knöpfe wirkten.
Ich war so alt geworden, dass ich von einer Yoghurtfabrik als Reklamegreis zu Propagandazwecken fotografiert wurde.
Die Tante konnte den gewählten Knopf nicht nehmen, es fehlten vier am Dutzend. Sie spuckte ihr Gebiss aus. Der Boy fand einen mühelosen Tod. Die Liftführer, zehn an der Zahl, verloren den Verstand und ließen sinnlos die Aufzüge auf- und niederrasen, dass die Splitter flogen. Mechanische Spielwerke drehten sich selbst auf und liefen verhetzt herum. Angestellte kletterten verstört auf die Regale und die Säulen. Andere fraßen in ihrer seelischen Not Pottasche.
Als die Tante nun noch Schweißblätter verlangte, die gerade ausgegangen waren, weil es eisiger Winter geworden war, erhob sich ein wildes Tohuwabohu, das elektrische Licht ging aus. Alles stürzte zu der immensen vierteiligen Drehtür des Haupteinganges, und ein wildes Rasen und Drehen, in das ich auch gerissen wurde, begann. Mit einer furchtbaren Schnelligkeit drehte sich die Tür, Ohren und Finger wurden von der Zentrifugalkraft abgerissen. Mir flogen die Rippen weg, das war mein Tod.
Das letzte Wort der Tante gellte mir in den Ohren: »Häkchen für hinten muss ich noch haben!«

Das amerikanische Riesenwarenhaus ist eingefallen. Nur die rasende Drehtür mit Klumpen unzähliger Menschenleiber dreht sich noch in ihrer wilden Fahrt, und unaufhörlich gleiten in gefährlicher Schnelle in ihren eisernen Führungen, die wie Türme aus dem Schutt emporragen, unzählige Aufzüge sinnlos auf und nieder.
Frau Bender konnte die Platze wegen der neuen Bluse von Tante Dorchen nicht kriegen; sie ist in der Zwischenzeit an einer Bauchfellentzündung gestorben.

Hermann Harry Schmitz „Die Bluse“; Aus: Düsseldorfer General-Anzeiger vom 13.10.1912; Buch der Katastrophen, Leipzig 1916

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