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Das Mädchen, das auf das Brot trat - ein Märchen von Hans Christian Andersen - 😍 Weil es dich gibt

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"Das Leben besteht nicht darin, zu warten, dass der Sturm vorbeizieht, sondern zu lernen, im Regen zu tanzen."

Das Mädchen, das auf das Brot trat – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Mädchen - Brot - Märchen von Hans Christian Andersen
Mädchen - Brot - Märchen von Hans Christian Andersen

Die Geschichte von dem Mädchen, das auf das Brot trat, um sich die Schuhe nicht zu beschmutzen, und dem es dann gar schlecht erging, ist wohlbekannt, sie ist geschrieben und sogar gedruckt.

Inge hieß das Mädchen; sie war ein armes Kind, stolz und hochmütig; es war ein schlechter Kern in ihr, wie man sagt. Schon als ganz kleines Kind hatte sie ihre Freude daran, Fliegen zu fangen diesen die Flügel auszurupfen und sie so in Kriechtiere zu verwandeln. Später nahm sie den Maikäfer und den Mistkäfer, steckte jeden an eine Nadel, schob dann ein grünes Blatt oder ein kleines Stück Papier zu ihren Füßen hin, und das arme Tier faßte es und hielt es fest, drehte und wendete es, um von der Nadel loszukommen.

»Jetzt liest der Maikäfer!« sagte Inge, sieh mal, wie er das Blatt wendet!« Mit den Jahren wurde sie eher immer schlechter als besser, aber hübsch war sie, und das war ihr Unglück, sonst wäre sie schon anders hergenommen worden, als sie es eben wurde.

»Der Kopf braucht eine scharfe Lauge!« sagte ihre eigene Mutter. »Als Kind hast du mir oft auf der Schürze herumgetrampelt, ich fürchte, du wirst mir später aufs Herz treten.« Und das tat sie auch.

Sie kam aufs Land in Dienst zu vornehmen Leuten, und diese hielten sie wie ihr eigenes Kind, als solches ging sie auch gekleidet; gut sah sie aus, und der Hochmut nahm zu.

Als sie etwa ein Jahr dort war, sagte ihre Herrschaft zu ihr: »Du sollst doch einmal deine Eltern besuchen, Inge!«

Und Inge begab sich auch auf den Weg zu ihren Eltern, aber nur, um sich in der Heimat zu zeigen; dort sollten die Leute sehen, wie fein sie geworden war; doch als sie am Eingang des Dorfes anlangte und die jungen Burschen und Mädchen dort plaudernd stehen sah und auch ihre Mutter darunter erkannte, die auf einen Stein saß und sich ausruhte, vor sich ein Bündel Reisig, das sie im Wald gesammelt hatte, da kehrte Inge um, sie schämte sich, daß sie, die so fein angekleidet war, eine solch zerlumpte Frau, die Reisig auflas, zur Mutter hatte. Es reute sie gar nicht, daß sie umkehrte, sie war nur ärgerlich.

Und wieder verstrich ein halbes Jahr. »Du solltest doch wieder einmal in deine Heimat gehen und deine alten Eltern besuchen, Inge!« sagte ihre Dienstherrin. »Ich schenke dir ein großes Weißbrot, das du ihnen geben kannst; sie werden sich gewiß freuen, dich wiederzusehen!«

Und Inge zog ihren besten Staat und ihre neuen Schuhe an und hob die Kleider hoch und schritt gar vorsichtig einher, damit sie rein und nett um die Füße bleibe, und das konnte man ihr auch nicht verargen! Als sie aber dorthin gelangte, wo der Fußweg über das Moor führt und wo Lachen und Schmutz sind, warf sie das Brot in den Schmutz und trat darauf, damit sie mit reinen Schuhen hinüberkäme. Allein, wie sie so dastand, den einen Fuß auf dem Brot, den anderen in der Luft, um weiterzuschreiten, sank das Brot mit ihr tiefer und tiefer, sie verschwand ganz und gar, und nur eine große Lache, die Blasen warf, war zu sehen. Das ist die Geschichte.

Aber wohin geriet Inge? Sie versank in den Moorgrund und kam zu der Moorfrau hinunter, die dort braut. Die Moorfrau ist die Base der Elfenmädchen, die bekannt genug sind, von denen man Lieder singt und die man abgemalt findet, aber von der Moorfrau wissen die Leute nur, daß sie es ist, die braut, wenn die Wiesen im Sommer dampfen. Hier in die Brauerei der Moorfrau hinab versank Inge, und dort ist es nicht lange auszuhalten. Die Schlammgrube ist ein helles Prunkgemach gegen die Brauerei der Moorfrau! Jedes Gefäß stinkt so, daß die Menschen davon ohnmächtig werden und dann stehen die Gefäße eng aneinander gepreßt und gibt es irgendeine kleine Öffnung zwischen ihnen, durch welche man sich hindurchdrängen könnte, so ist das doch nicht möglich, wegen all der nassen Kröten und fetten Schlangen, die sich hier förmlich verfilzen; hier hinab versank Inge; all das Ekelhafte, lebendige Gekrieche war so eisig kalt, daß ihr alle Glieder fröstelten, ja, daß sie immer mehr erstarrte. An dem Brot blieb sie fest hängen, und das Brot zog sie hinab, wie ein Bernsteinknopf einen Strohalm anzieht.

Die Moorfrau war zu Hause, die Brauerei hatte an dem Tag Besuch, sie wurde besichtigt vom Teufel und seiner Großmutter, und des Teufels Großmutter ist ein altes, sehr giftiges Frauenzimmer, das nimmer müßig ist; sie reitet nie auf Besuch aus, ohne ihre Handarbeit mit sich zu führen, und die hatte sie denn auch hier bei sich. Sie nähte Leder für die Schuhe der Mensch, so daß diese immer umherwuzeln mußten und kein Sitzfleisch haben konnten; sie stickte Lügengewebe und häkelte unbesonnene Worte, die zur Erde gefallen waren, alles zum Schaden und Verderben. Ja, die konnte nähen, sticken und häkeln, die alte Großmutter.

Sie gewahrte Inge, hielt ihr Brillenglas vors Auge und besah sich das Mädchen noch einmal: »Das ist ein Mädchen, das Fähigkeiten besitzt!« sprach sie, »und ich bitte mir die Kleine zur Erinnerung an meinen Besuch hier aus! Sie wird ein passendes Postament in dem Vorgemach meines Enkels bekommen!« Und sie bekam sie. Auf diese Weise kam Inge in die Hölle. Dahinein fahren die Leute nicht immer auf direktem Wege, aber sie können auf Umwegen hinkommen, wenn sie Fähigkeiten besitzen.

Das war ein Vorgemach ohne Ende; es schwindelte einem, wenn man vorwärts schaute, und es schwindelte einem, wenn man rückwärts schaute, und eine Schar von Verschmachtenden stand hier, die da harrte, daß ihnen das Tor der Gnade aufgetan werden sollte; sie hatte lange zu warten! Große, fette, watschelnde Spinnen spannen tausendjähriges Gewebe über ihre Füße hinweg, und dieses Gewebe schnitt ein wie Fußangeln und fesselte wie kupferne Ketten; und außerdem gärte noch eine ewige Unruhe in jeder Seele, eine Unruhe voll des Jammers. Der Geizige stand da und hatte den Schlüssel zu seinem Geldkasten vergessen, und der Schlüssel steckte darin, das wußte er. Ja, es wäre zu weitläufig, alle Arten der Peinigungen und des Jammers herzuzählen, die dort erlitten wurden. Inge empfand es als entsetzliche Pein, dort auf einem Postament stehen zu müssen; sie war gleichsam von unten an das Brot genagelt.

»Das hat man davon, wenn man sich die Füße rein und sauber bewahren will!« sprach sie zu sich selber. »Seht mal, wie sie mich anglotzen!« Ja, freilich waren die Blicke aller auf sie gerichtet; ihre bösen Gelüste leuchteten ihnen aus den Augen und sprachen ohne Laute aus ihrem Mund, sie waren entsetzlich anzusehen.

»Mich anzuschauen, muß ein Vergnügen sein!« dachte Inge, »ich habe ein hübsches Gesicht und schöne Kleider an!« und nun drehte sie die Augen, den Nacken konnte sie nicht drehen, der war zu steif dazu. Nein, wie war sie im Brauhaus der Moorfrau beschmutzt worden, das hatte sie nicht bedacht. Ihre Kleider waren wie mit Schleim bezogen, eine Schlange hatte sich in ihr Haar festgehangen und baumelte ihr am Rücken herab, und aus jeder Falte ihres Kleides guckte eine große Kröte hervor, die wie ein engbrüstiger Mops bellte. Das war sehr unangenehmen. »Aber die anderen hier unten sehen ja auch entsetzlich aus!« meinte sie, und damit tröstete sie sich selber.

Das Schlimmste von allem war jedoch der gräßliche Hunger, den sie verspürte. Konnte sie sich denn nicht bücken und ein Stück von dem Brot brechen, auf welchem sie stand? Nein, der Rücken war steif, Arme und Hände waren erstarrt, ihr ganzer Körper war wie eine Steinsäule, nur die Augen konnte sie noch im Kopfe drehen, ringsherum drehen, so daß sie auch rückwärts zu schauen vermochte; das war ein häßlicher Anblick. Und dann kamen die Fliegen heran, die krochen über ihre Augen hin, hinüber und herüber, sie blinzelte mit den Augen, aber die Fliegen flogen nicht davon, denn fliegen konnten sie nicht, die Flügel waren ihnen ausgezupft; sie waren in Kriechtiere verwandelt worden; das war eine Pein, und dazu der Hunger, ja, zuletzt schien es ihr, als fräßen sich ihre Eingeweide selber auf und als würde sie inwendig ganz leer, ganz entsetzlich leer. »Wenn das länger andauern soll, dann halte ich es nicht aus!« sprach sie, aber sie mußte aushalten, und es dauerte immerfort.

Da fiel eine heiße Träne auf ihren Kopf herab, rollte über ihr Antlitz und ihre Brust bis ganz auf das Brot, auf welchem sie stand, und es fielen mehr Tränen, viele noch. Wer weinte wohl über Inge? Hatte sie doch auf Erden noch eine Mutter! Die Tränen des Kummers, welche eine Mutter über ihr Kind weint, gelangen stets zu dem Kind, aber sie erlösen es nicht, sie brennen, sie vergrößern die Pein. Und nun dieser unleidige Hunger und die Qual, das Brot nicht erreichen zu können, auf welchem sie doch mit den Füßen stand! Sie hatte das Gefühl, als wenn ihr ganzes Inneres sich selber verzehrt habe, sie war wie ein dünnes, hohles Rohr, daß jeden Laut einsaugt; sie hörte deutlich alles, was oben auf der Erde von ihr gesprochen wurde, und was sie hörte, war hart und bös. Ihre Mutter weinte zwar sehr und war ihretwegen betrübt, aber sie sprach dessenungeachtet: »Hochmut kommt vor den Fall! Das war dein Unglück, Inge! Du hast deine Mutter sehr betrübt!«

Ihre Mutter und alle oben auf der Erde wußten um die Sünde, die sie begangen hatte, wußten, daß sie auf das Brot getreten war, daß sie versunken und verschwunden war; der Kuhhirt hatte es vom Abhang, vom Moorweg aus gesehen.

»Wie hast du doch deine Mutter betrübt, Inge!« sagte die Mutter; »Ja, ich hatte es schon geahnt!« »Wäre ich doch nie geboren!« dachte Inge dann, »das wäre weit besser für mich gewesen. Wozu nützt es aber jetzt, daß meine Mutter weint?«

Sie vernahm, wie ihre Herrschaft, die guten Leute, die sie wie Eltern gehegt und gepflegt hatten, jetzt sprachen und sagten: »Sie war ein sündhaftes Kind, sie hat die Gaben Gottes nicht geachtet, sondern sie mit Füßen getreten, die Tür der Gnade wird sich ihr nur langsam auftun!« »Sie hätten mich züchtigen, mir die Mucken austreiben sollen, falls ich welche gehabt habe.«

Sie hörte, daß ein ganzes Lied auf sie gereimt wurde, das Lied von dem hochmütigen Mädchen, das auf das Brot trat, damit ihre Schuhe rein blieben, und daß man das Lied im ganzen Lande sang.

»Daß man deshalb so viel Böses hören muß und so viel leiden!« dachte Inge: »die anderen müßten auch ihrer Sünden wegen bestraft werden! Ja, dann wäre freilich viel zu bestrafen! Ach wie ich gepeinigt werde!« Und ihr Sinn verhärtete sich noch mehr als ihr Äußeres. »Hier unten in dieser Gesellschaft kann man nun einmal nicht besser werden! Und ich will auch nicht besser werden! Sieh, wie sie mich anglotzen!« Und ihr Sinn war voll Zorn und Bosheit gegen alle Menschen.

»Jetzt haben sie endlich dort oben etwas zu erzählen! Ach, wie ich gepeinigt werde!« Und sie hörte auch, wie ihre Geschichte den Kindern erzählt wurde, und die Kleinen nannten sie die gottlose Inge, sie sei so häßlich, sagten sie, so garstig, sie müsse recht gepeinigt werden. Immerfort kamen harte Worte über sie aus Kindermund.

Doch eines Tages, während Gram und Hunger im Innern ihres hohlen Körpers nagten und sie hörte, wie man ihren Namen nannte und ihre Geschichte einem unschuldigen Kind, einen kleinen Mädchen, erzählte da vernahm sie, daß die Kleine in Tränen ausbrach bei der Geschichte von der hochfahrenden putzsüchtigen Inge.

»Aber kommt Inge denn nie mehr herauf?« fragte das kleine Mädchen. Und man antwortete: »Sie kommt nimmermehr herauf!« »Aber wenn sie nun ‘bitte, bitte’ sagen, um Verzeihung bitten und es nie wieder tun würde!« »Dann wohl, doch sie will nicht um Verzeihung bitten!« hieß es hierauf. »Ich möchte so gern, daß sie es täte!« sagte die Kleine und war ganz untröstlich. »Ich will meine Puppe und all mein Spielzeug darum geben, wenn sie nur heraufkommen darf. Es ist zu schrecklich – die arme Inge!«

Und diese Worte reichten bis in Inges innerstes Herz, sie taten ihr gleichsam wohl; es war das erste Mal, daß jemand sagte: »Die arme Inge!« und nichts von ihren Fehlern hinzufügte; ein kleines, unschuldiges Kind weinte und bat um Gnade für sie, es wurde ihr dabei ganz sonderbar zumute, sie selber hätte jetzt gern geweint, aber sie vermochte es nicht, sie konnte nicht weinen, und das war auch eine Qual.

Während Jahre dort oben verstrichen – unten, wo sie war, gab es keinen Wechsel –, hörte sie immer seltener Worte von oben, man sprach weniger von ihr. Da drang plötzlich eines Tages ein Seufzer zu ihrem Ohr: »Inge! Inge! Wie du mich betrübt hast! Ich habe es ja gesagt!« Es war ihrer sterbenden Mutter letzter Seufzer.

Zuweilen hörte sie ihren Namen von ihrer früheren Herrschaft nennen, und das waren sanfte Worte, wenn die Frau sagte: »Ob ich Dich doch wohl jemals wiedersehe, Inge? Man weiß nicht, wohin man kommt!« Aber Inge sah wohl ein, daß ihre gute Dienstherrin nie hierher kommen könnte, wo sie war. So verstrich wiederum eine Zeit, eine lange, bittere Zeit.

Da hörte Inge noch einmal ihren Namen nennen und sah über sich gleichsam zwei klare Sterne funkeln; es waren zwei sanfte Augen, die sich auf Erden schlossen. So viele Jahre waren seit damals verstriche, als das kleine Mädchen untröstlich war und über ‘die arme Inge’ weinte, daß das Kind eine alte Frau geworden war, die Gott nun wieder zu sich rufen wollte; und gerade in dieser Stunde, in der die Gedanken alle aus des Lebens ganzem Tun wieder emportauchen, entsann sie sich auch, wie sie einst als kleines Kind recht wehmütig hatte weinen müssen bei der Geschichte von Inge. Jene Stunde und jener Eindruck wurden der alten Frau in ihrer Todesstunde dermaßen wieder lebendig, daß sie ganz laut in die Worte ausbrach: »Mein Gott und Herr, ob ich nicht auch, wie Inge, oft deine Segensgaben mit Füßen getreten und mir nichts Böses dabei gedacht habe. Ob ich nicht auch umhergegangen bin mit hochmütigem Sinn – du hast in deiner Gnade mich nicht sinken lassen, sondern mich aufrecht erhalten! Oh, lasse nicht ab von mir in meiner letzten Stunde!«

Und die Augen der Alten schlossen sich, und ihrer Seele Auge erschloß sich, das Verborgene zu schauen. Sie, in deren letzten Gedanken Inge so lebhaft zugegen gewesen war, sie sah jetzt auch, wie tief hinab Inge gezogen war, und bei dem Anblick brach die Fromme in Tränen aus; im Himmel stand sie wie ein Kind und weinte um die arme Inge. Und diese Tränen und Gebete klangen wie ein Echo hinab in die hohle, leere Hülle, welche die gefesselte, gepeinigte Seele umschloß, die nie erwartete Liebe von oben überwältigte sie: ein Engel Gottes weinte um sie! Weshalb ward ihr dies wohl vergönnt? Die gepeinigte Seele sammelte gleichsam in Gedanken jede Erdenhandlung, die sie verübt hatte, und sie, Inge, zitterte unter Tränen, wie sie solche niemals geweint hatte; Kummer über sich selber erfüllte sie, ihr war es, als können sich ihr die Pforte der Gnade nimmer öffnen, und als sie in Zerknirschung dieses erkannte, schoß leuchtend ein Strahl in den Abgrund zu ihr hinab, und zwar mit einer Kraft, die weit stärker war als die des Sonnenstrahls, durch den der Schneemann auftaut, den die Knaben hinstellen; und weit schneller als die Schneeflocke schmilzt und zu einem Tropfen wird, der auf die warmen Lippen des Kindes fällt, löste sich die versteinerte Gestalt Inges in Nebel auf, ein kleiner Vogel schwang sich im Zickzack des Blitzes hinauf in die Menschenwelt. Aber der Vogel war ängstlich und scheu gegen alles ringsum, er schämte sich seiner selbst, schämte sich vor allen lebenden Geschöpfen und suchte eiligst sich in ein finsteres Loch in einem alten, verwitterten Gemäuer zu verbergen, dort saß er und kauerte, zitternd am ganzen Körper, keinen Laut vermochte er von sich zu geben, er hatte keine Stimme; lange saß er, bevor er all die Herrlichkeit ringsum klar sehen und vernehmen konnte; ja, herrlich war es! Die Luft war frisch und mild, der Mond warf seinen klaren Schein über die Erde; Bäume und Gebüsch sandten Düfte aus, und gar traulich war es, wo er saß, sein Federgewand war ganz rein und fein. Nein, wie war doch alles Geschaffenen in Liebe und Herrlichkeit dargebracht! Alles, was sich in der Brust des Vogels regte, wollte sich hinaussingen, aber der Vogel vermochte es nicht, gern hätte er gesungen wie im Frühling der Kuckuck und die Nachtigall. Unser Herrgott, der auch den lautlosen Lobgesang des Wurmes vernimmt, hörte auch hier den Lobgesang, der sich in Gedankenakkorden erhob, so wie der Psalm im Innern Davids klang, bevor er zu Wort und Melodie wurde.

Wochenlang regten diese lautlosen Lieder sich in Gedanken, sie mußten zum Ausbruch kommen, mußte es bei dem ersten Flügelschlag einer guten Tat, eine solche mußte getan werden!

Das heilige Weihnachtsfest kam heran. Der Bauer pflanzte in der Nähe der Mauer eine Stange auf und befestigte daran eine Garbe Hafer, damit die Vögel in der Luft auch ein fröhliches Weihnachtsfest und eine gute Mahlzeit hätten, in dieser Zeit des Erlösers.

Und die Sonne erhob sich am Weihnachtsmorgen und schien auf die Garbe, und zwitschernde Vögel in Scharen umflatterten die Futterstange, da klang es auch aus dem Mauerloch heraus: »Piep, piep!« Der schwellende Gedanke ward zum Laut, das schwache Piepen eine ganze Freudenhymne, der Gedanke einer guten Tat erwachte, und der Vogel schwang sich aus seinem Versteck heraus, im Himmel wußten sie schon, was das für ein Vogel war!

Der Winter war streng, die Gewässer waren zugefroren, die Vögel und die Tiere des Waldes hatten knappe Futterzeiten. Unser kleiner Vogel schwang sich über die Landstraße dahin, und dort in dem Geleise der Schlitten fand er auch hin und wieder ein Körnchen, an den Haltestellen einige Brotkrümelchen, und er selber fraß nur wenig, aber er rief all die anderen verhungerten Sperlinge herbei, damit sie etwas Futter bekämen. Er flog in die Städte hinein, spähte ringsum, und wo eine liebe Hand Brot auf das Fensterbrett für die Vögel gestreut hatte, dort fraß er selber nur ein einzelnes Krümelchen, gab aber alles den anderen Vögeln.

Im Verlauf des Winters hatte der Vogel so viele Brotkrümelchen gesammelt und den anderen Vögeln gespendet, daß sie zusammen das ganze Brot aufwogen, auf das Inge getreten hatte, damit ihre Schuhe rein blieben, und als das letzte Brotkrümelchen gefunden und gespendet war, wurden die grauen Flügel des Vogels weiß und breiteten sich weit aus.

»Dort fliegt eine Seeschwalbe über das Wasser hin!« sagten die Kinder, die den weißen Vogel sahen; nun tauchte er in den See hinab, nun hob er sich empor in den klaren Sonnenschein, er glänzte, es war nicht möglich, zu sehen, wo er blieb; sie sagten, er sei geradewegs in die Sonne geflogen.

Hans Christian Andersen 

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