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Der Bischof auf Börglum und seine Sippe – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Der Bischof auf Börglum und seine Sippe – ein Märchen von Hans Christian

Jetzt sind wir oben in Jütland, oberhalb des Wildmoores; wir können den »Westwauwau« hören (wie dort die Nordsee heißt); hören wie er bellt, er ist ganz nahe. Aber vor uns erhebt sich ein großer Sandhügel; lange haben wir ihn schon gesehen und wir fahren noch immer auf ihn zu, langsam fahren wir in dem tiefen Sande. Oben auf dem Sandhügel liegt ein großes altes Gebäude; es ist das Kloster Börglum, dessen größter Flügel noch heute als Kirche dient.. Spät am Abend langen wir an, aber es ist klares Wetter, es ist die Zeit der hellen Nächte. Weit, weit hinaus kann man von hier schauen, über Feld und Moor bis zur Aalborger Bucht, über Heide und Wiese, über das dunkelblaue Meer hin.

Nun sind wir oben, nun rasseln wir zwischen Ställen und Scheunen hindurch, biegen um und fahren gerade durch das große Tor in den alten Burghof hinein, wo die Mauer entlang eine Reihe stattlicher Lindenbäume steht. Dort stehen sie geschützt vor Wind und Wetter, deshalb wachsen sie, daß ihre Zweige die Fenster fast verhüllen.

Wir gehen die steinerne Treppe hinauf, wir schreiten durch die langen Gänge unter der Decke von starkem Gebälk hin, der Wind saust hier so wunderlich, draußen oder drinnen, man weiß wirklich nicht, wo es ist; und deshalb erzählt man – ja man erzählt so viel, man sieht so viel, wenn einem bange ist oder man andere bange machen will. Die alten verstorbenen Domherren gleiten, wie man sich erzählt, still an uns vorüber in die Kirche hinein, wo die Messe gesungen wird, die man im Sausen des Windes hören kann. Man wird dabei so sonderbar gestimmt, man denkt an die alten Zeiten – denkt, bis man sich im Geiste mitten in der alten Zeit befindet.

Ein Schiff ist an der Küste gescheitert, die Leute des Bischofs sind dort unten, sie verschonen die Unglücklichen nicht, die das Meer verschont hatte. Die See spült das rote Blut ab, das von den zerschmetterten Stirnen herabfloß. Das Strandgut gehört dem Bischof, und viel ist angetrieben. Die See rollt Fässer und Tonnen heran, gefüllt mit köstlichem Wein für den Klosterkeller, der schon voll ist mit Bier und Met. Voll ist auch die Küche mit erlegtem Wildbret, Wurst und Schinken; in den Teichen draußen schwimmt der fette Brassen und die leckere Karausche. Der Bischof auf Börglum ist ein mächtiger Mann, viele Ländereien gehören zu seinem Besitz und noch mehr will er gewinnen; alles soll sich vor Oluf Glob beugen. In Thy ist sein reicher Vetter gestorben. »Gott behüte mich vor meinen Freunden!«; die Wahrheit dieses Sprichwortes soll die Witwe erfahren. Ihr Gatte herrschte mit Ausnahme der geistlichen Güter über das ganze Land. Der Sohn befindet sich in der Fremde; schon als Knabe wurde er hinausgesandt, um fremde Sitten zu lernen, wonach sein Verlangen stand. Seit Jahren hat man nichts von ihm gehört. Vielleicht ruht er schon im Grabe und kehrt also nimmer heim, um zu herrschen, wo jetzt seine Mutter herrscht.

»Was soll ein Weib herrschen?« ruft der Bischof. Er sendet eine Vorladung und ruft sie vor das Thinggericht. Aber was hilft ihm das? Sie war nie vom Gesetz abgewichen und ihre Stärke lag in ihrer gerechten Sache.

Bischof Oluf auf Börglum, worauf sinnst Du? Was schreibst Du auf das blanke Pergament nieder? Was verschließt es unter Siegel und Band, während du es Rittern und Knechten gibst, die damit aus dem Lande reiten, weit, weit fort, bis zur Stadt des Papstes?

Es ist die Zeit des Laubfalls, die Zeit der Schiffbrüche, nun kommt der eisige Winter.

Zweimal kam er, nun endlich ruft er den Rittern und Knechten ein Willkommen entgegen, die mit einem päpstlichen Briefe von Rom heimkehren, mit einem Bannbriefe über die Witwe, die den frommen Bischof zu beleidigen wagte. »Verflucht sei sie und alles Ihrige! Ausgestoßen sei sie aus der Kirche und Gemeinde! Niemand leist ihr hilfreiche Hand, Freunde und Verwandte sollen sie wie Pest und Aussatz scheuen!«

»Was sich nicht biegen läßt, muß man brechen!« sagte der Bischof auf Börglum.

Sie verlassen sie alle; aber sie verläßt ihren Gott nicht, er ist ihr Wehr und Waffe.

Ein einziger Dienstbote, eine alte Magd, bleibt ihr treu; mit ihr geht sie hinter dem Pfluge her, und das Korn wächst und gedeiht, trotzdem daß die Erde von Papst und Bischof verflucht ist.

»Du Kind der Hölle! Ich will doch meinen Willen durchsetzen!« sagt der Bischof von Börglum, »die Hand des Papstes soll sich jetzt auf dich legen und dich vor Gericht schleppen, damit du dein Urteil erhälst!«
Da spannt sie die letzten beiden Ochsen, die sie noch besitzt, vor den Wagen, setzt sich mit ihrer Magd hinauf und fährt über die Heide zum dänischen Lande hinaus. Als Fremde tritt sie unter ein fremdes Volk wo eine fremde Sprache geredet wird, fremde Sitten die Herrschaft führen, weit fort, wo die grünen Hügel sich zu Bergen erheben, auf denen der Wein gedeiht. Reisende Kaufleute ziehen dort die Straßen, ängstlich schauen sie von ihrem Lastwagen um sich, weil sie fürchten, von Raubrittern überfallen zu werden. Die beiden armen Frauen fahren auf ihrem armseligen, von zwei schwarzen Ochsen gezogenen Fuhrwerke unbesorgt in den unsicheren Hohlweg und in die dichten Wälder hinein. Sie befinden sich in Franken. Hier begegnet die arme Verbannte einem stattlichen Ritter, dem zwölf gewappnete Knappen folgen. Er macht halt, sieht sich den seltsamen Zug an und fragt die beiden Frauen nach dem Ziele ihrer Reise und aus welchem Lande sie kommen. Da nennt die Jüngere von beiden Thy in Dänemark, erzählt ihren Kummer und ihr Elend. Und gar bald hat das Elend ein Ende gefunden; Gott hat es so gefügt. Der fremde Ritter ist ihr Sohn. Er reicht ihr die Hand, er schließt sie in die Arme, und die Mutter weint, was sie seit Jahren nicht vermochte; vorher biß sie sich statt dessen in die Lippen, daß die warmen Blutstropfen hervorquollen.

Es ist die Zeit des Laubfalls, es ist die Zeit der Schiffbrüche; das Meer treibt Weinfässer für des Bischofs Keller und Küche an das Land. Über der lodernden Flamme brät das gespickte Wild. Warm und behaglich ist es jetzt, wo der Winter naht, hinter den geschlossenen Türen. Da verlautet etwas Neues: Jens Glob auf Thy ist mit seiner Mutter heimgekehrt; Jens Glob läßt Ladung ergehen; er ladet den Bischof nach Landes Gesetz und Recht vor das geistliche Gericht.

»Das wird ihm viel helfen!« meinte der Bischof. »Laß deinen vergeblichen Streit nur ruhen, Ritter Jens!«

Es ist die Zeit des Laubfalles im nächsten Jahr, die Zeit der Schiffbrüche; nun kommt der eisige Winter. Die weißen Bienen schwärmen, sie stechen ins Gesicht, bis sie selbst schmelzen.

»Heute ist es frisches Wetter«, sagen die Leute, wenn sie vor der Tür gewesen sind. Jens Glob steht in Gedanken verloren da, so daß er sich am Kamin sein weites Gewand versengt, ja ein Loch hineinbrennt.

»Du Börglumer Bischof! Ich besiege dich doch noch! Unter dem Mantel des Papstes kann dich das Gesetz nicht erreichen, aber Jens Glob wird dich erreichen!«

Daruf schrieb er einen Brief an seinen Schwager, Herrn Oluf Hase in Salling, und bittet ihn, sich zur Frühmesse am Weihnachtstage in der Kirche zu Hvidberg einzufinden. Dort oben muß der Bischof Messe lesen, deshalb reist er von Börglum nach Thyland; das kennt und weiß Jens Glob.

Wiese und Moor liegen unter einer Eis- und Schneedecke, die Pferde und Reiter, den ganzen Zug, den Bischof samt pfaffen und Knechten zu tragen vermag; sie reiten den kürzesten Weg durch das schwache Röhricht, durch das der Wind so traurig saust.

Stoße in deine Messingtrompete, du Spielmann in deinem Fuchspelze! Es klingt gut in der klaren Luft. Dann reiten sie über Heide und Moor, den Wiesengarten der Fata Morgana am warmen Sommertage, immer südwärts; sie wollen nach der Hvidberger Kirche.

Der Wind bläst seine Trompete stärker, er bläst einen Sturm, ein Unwetter zusammen, das mit furchtbarer Gewalt zunimmt. Zum Gotteshaus geht es im Unwetter weiter. Gottes Haus steht fest, aber der Sturm braust über Feld und Moor, über Bucht und Meer. Der Börglumer Bischof erreicht die Kirche, Herr Oluf Hase wird wohl schwerlich hinkommen, wie scharf er auch reitet. Er kommt mit seinen Mannen jenseits der Bucht Jens Glob zu Hilfe, nun, Bischof, wirst du vor des Höchsten Gericht geladen werden.

Gottes Haus ist der Gerichtssaal, der Altartisch Gerichtstisch; die Lichter auf den schweren Messingleuchtern sind alle angezündet. Der Sturm liest Klage und Urteil vor. Es braust in der Luft, über Moor und Heide, über die rollenden Wogen hin. Keine Fähre setzt in solchem Unwetter über die Meeresbucht.

Oluf Hase steht am Ottesund; er verabschiedet seine Mannen, schenkt ihnen Rosse und Harnische, erteilt ihnen Urlaub, heimzuziehen und trägt ihnen Grüße an seine Gattin auf. Allein will er sein Leben dem brausenden Wasser anvertrauen, aber sie sollen ihm bezeugen, daß nicht an ihm die Schuld liegt, wenn Jens Glob in der Kirche zu Hvidberg ohne Unterstützung ist. Die treuen Knappen verlassen ihn nicht, sie folgen ihm in das tiefe Wasser nach. Zehn werden eine Beute der Wellen, Oluf Hase selbst und zwei junge Knappen erreichen das andere Ufer; noch haben sie vier Meilen zu reiten.

Mitternacht ist vorüber, es ist Christnacht. Der Wind hat sich gelegt; die Kirche ist erleuchtet; das strahlende Licht scheint durch die Scheiben über Wiese und Heide hinaus. Längst ist die Christmette beendet. Im Gotteshause ist es still, man kann das Wachs von den Lichtern auf den steinernen Fußboden tropfen hören. Jetzt kommt Oluf Hase.

In der Vorhalle bietet ihm Jens Glob Guten Tag. »Jetzt«, fährt er fort, »habe ich mich mit dem Bischofe verglichen.«

»Das hättest du getan?« ruft Oluf, »dann sollst weder du noch der Bischof lebendig aus der Kirche kommen!«

Und das Schwert fährt aus der Scheide, und Oluf Hase schlägt zu, daß die Planke der Kirchentüre, die Jens Glob schnell zwischen sich und Oluf zuschlägt, zersplittert wird.

»Halt ein, lieber Schwager, betrachte dir erst meinen Vergleich, ich habe den Bischof und seine ganze Begleitung erschlagen. Nicht eine Silbe sagen sie mehr in der Sache, und auch ich will von nun an von dem Unrecht schweigen, das meiner Mutter zugefügt ist.«

Die Schuppen an den Lichtern auf dem Altar leuchten so rot, aber röter leuchtet es vom Fußboden her; mit zerspaltenem Schädel liegt dort der Bischof in seinem Blute und getötet liegen all seine Begleiter da; lautlos und still ist es an dem heiligen Weihnachtsmorgen.

Aber am Abend des dritten Feiertages läuten im Kloster zu Börglum die Totenglocken; der getötete Bischof und seine erschlagenen Leute werden unter einem schwarzen Baldachin mit florumhüllten Kandelabern ausgestellt. In einem Mantel aus Silberbrokat liegt der Tote, der einst mächtige Herr, mit dem Krummstabe in der machtlosen Hand. Der Weihrauch duftet, die Mönche singen; es klingt wie Klage, es klingt wie ein Urteil des Zornes und der Verdammung, das weithin über das Land vernehmbar ist, getragen vom Winde, mitgesungen vom Winde. Er legt sich wohl und ruht, aber er stirbt niemals; immer erhebt er sich wieder und singt seine Lieder, singt sie bis in unsere Zeit hinein, singt sie hier oben von dem Bischof auf Börglum und seiner harten Sippe. In der finstern Nacht schallt sein Gesang; er wird von den furchtsamen Bauern vernommen, der auf dem schweren Sandwege am Börglumer Kloster vorbeifährt, wird von dem lauschenden Schlaflosen in den Stuben des Klosters trotz ihrer dicken Wände vernommen, und deshalb raschelt es in den langen widerhallenden Gängen, die nach der Kirche führen, deren zugemauerter Eingang längst verschlossen ist; freilich nicht vor den Augen des Aberglaubens. Noch immer erblicken sie die Tür, und sie öffnet sich; die Lichter strahlen von den messingnen Kronleuchtern, der Weihrauch duftet, die Kirche flimmert in altertümlicher Pracht, die Mönche singen die Messe für den getöteten Bischof, der in silberbrokatenem Mantel mit dem Bischofsstabe in seiner machtlosen Hand daliegt, und auf seiner bleichen stolzen Stirn leuchtet die blutige Wunde, die wie Feuer glänzt; es ist der Weltsinn und die bösen Lüste, die daraus hervorbrennen.

Versinket ins Grab, versinket in Nacht und Vergessenheit, ihr entsetzlichen Erinnerungen aus alten Tagen!

Hört den Windstoß, welcher das rollende Meer übertönt! Ein Sturm hat sich draußen erhoben, der viele Menschenleben kosten wird! Das Meer hat mit der neuen Zeit seinen Sinn nicht geändert. Heute nacht ist es nur ein Rachen, der verschlingt, morgen vielleicht ein klares Auge, daß man sich darin spiegeln kann, gerade wie in der alten Zeit, die wir jetzt begraben haben. Schlaf süß, wenn Du es vermagst!

Jetzt ist es Morgen!

Die neue Zeit scheint sonnig in das Zimmer hinein! Der Wind hält noch an. Ein Schiffbruch wird gemeldet, wie in alter Zeit.

Heute Nacht ist dort unten bei Löcken, dem kleinen Fischerdorfe mit den roten Dächern, das wir von den Fenstern hier oben aus sehen können, ein Schiff gestrandet. Nicht weit vom Ufer stieß es auf, aber die Rettungsrakete schlug eine Brücke zwischen dem Wrack und dem festen Lande; alle, die an Bord waren, wurden gerettet, sie kamen ans Land und zu Bette. Heute sind sie auf das Kloster Börglum eingeladen. In den freundlichen und wohnlichen Zimmern werden sie Gastfreiheit finden und sanften Augen gegenübertreten, werden sie in ihrer eigenen Landessprache willkommen geheißen werden. Vom Klavier herüber tönen die Melodien ihrer Heimat, und ehe sie noch beendet sind, braust eine andere Saite, lautlos und doch so klangvoll und sicher; auf dem Gedankenträger schwingt die Botschaft bis zur Heimat der Schiffbrüchigen im fremden Lande fort und meldet ihre Rettung. Da fühlt der Sinn sich leicht, da steigt die Lust in ihnen auf, beim Feste am Abend in den alten Klosterstuben am Tanze teilzunehmen. Walzer und Reigen wollen wir tanzen und Lieder sollen gesungen werden von Dänemark und dem »tapfern Landsoldaten« in dieser neuen Zeit.

Gesegnet seist du, neue Zeit! Mit gereinigter Luft zieh ein in die Stadt! Laß deine Sonnenstrahlen in Herzen und Gedanken leuchten! Auf deinem strahlenden Grunde schweben die finstern Sagen aus den harten, den strengen Zeiten vorüber.

Hans Christian Andersen

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