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Der kleine Tuk – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Der kleine Tuk - ein Märchen von Hans Christian Andersen
Der kleine Tuk - ein Märchen von Hans Christian Andersen

Ja, das war der kleine Tuk, er hieß eigentlich nicht Tuk, aber zu der Zeit, als er noch nicht richtig sprechen konnte, da nannte er sich selbst Tuk; das sollte Karl bedeuten, und es ist gut, wenn man das weiß; er sollte auf seine Schwester Marie Acht geben, die noch viel kleiner war als er, und dann sollte er auch seine Aufgabe lernen, aber Beides wollte nicht auf einmal gehen. Der Knabe saß mit seiner kleinen Schwester auf dem Schoß und sang alle die Lieder, die er wusste und inzwischen schielten die Augen nach dem Geographiebuche, welches offen vor ihm lag; er sollte bis morgen alle Städte von Seeland mit ihren Merkwürdigkeiten hersagen können.

Nun kam seine Mutter nach Hause und nahm die kleine Marie; Tuk lief ans Fenster und las, dass er sich fast die Augen ausgelesen hätte, denn es wurde schon dunkel, aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.

“Da geht die alte Waschfrau drüben aus der Gasse!” sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster blickte. “Sie kann sich kaum selbst schleppen und doch muss sie den Eimer vom Brunnen tragen, spring hinaus kleiner Tuk, sei ein guter Junge und hilf der alten Frau!”

Tuk sprang sogleich hin und half, als er aber wieder zurückkam, war es ganz finster geworden, und von Licht war keine Rede. Nun sollte er ins Bett, das war eine alte Schlafbank, in dieser lag er und dachte an seine Geographieaufgabe und an Alles, was der Lehrer erzählt hatte. Es hätte freilich gelesen werden müssen, aber das konnte er nun doch nicht. Das Geographiebuch steckte er unter sein Kopfkissen, denn er hatte gehört, dass das bedeutend helfe, um seine Aufgabe zu behalten, aber darauf kann man sich nicht verlassen.

Da lag er nun und dachte, und da war es auf einmal, als wenn ihn Jemand auf Augen und Mund küsste; er schlief und schlief doch auch nicht, es war gerade, als ob die alte Waschfrau ihn mit ihren sanften Augen anblickte und zu ihm sagte. “Es würde eine große Schande sein, wenn du deine Aufgaben nicht gelernt hättest! du hast mir geholfen, jetzt werde ich dir helfen, und der liebe Gott wird es immer tun!”

Und mit einem Male krippelte und krappelte das Buch unter dem Kopf des kleinen Tuk.

“Kikeriki! put put!” das war eine Henne und die kam aus Kjöge. “Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge!” Und dann sagte sie, wie viel Einwohner dort seien, und sprach von der Schlacht, die dort geliefert worden sei, und die war gar nicht der Rede wert. “Krippel, krappel, bums!” da fiel einer; das war ein hölzerner Vogel, der jetzt ankam; es war der Papagei vom Vogelschießen in Prästo. Der sagte, dass dort ebenso viel Einwohner seien, als er Nägel im Leibe habe; und er war recht stolz: “Thorwaldsen hat bei mir an der Ecke gewohnt. Bums! Ich liege herrlich!”

Aber der kleine Tuk lachte nicht, er war auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit glänzendem Helm und wallendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde, und sie ritten durch den Wald nach der alten Stadt Vordingborg, und dieses war eine große lebhafte Stadt; hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter leuchteten weit durch die Fenster hinaus; drinnen war Gesang und Tanz; König Waldemar und geputzte junge Hoffräulein tanzten miteinander. – Es wurde Morgen, und sowie die Sonne erschien, sank die Stadt und das Schloss des Königs zusammen, ein Turm nach dem andern, zuletzt stand nur noch ein einziger auf dem Hügel, wo das Schloss gestanden hatte, und die Stadt war klein und arm, und die Schulknaben kamen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: “Zweitausend Einwohner”, aber das war nicht wahr, so viel waren da nicht.

Und der kleine Tuk lag in seinem Bette, und es war ihm, als ob er träumte und doch wieder nicht träumte, aber es war Jemand dicht neben ihm.

“Kleiner Tuk, kleiner Tuk!” sprach es; das war ein Seemann, eine ganz kleine Figur, als wenn es ein Kadett wäre. “Ich soll vielmals grüßen von Corsör. Das ist eine Stadt, welche im Aufblühen ist; es ist eine lebhafte Stadt, sie hat Dampfschiffe und Postwagen; früher wurden sie immer hässlich genannt, aber das war eine veraltete Ansicht.” – “Ich liege am Meer”, sagte Corsör; “Ich besitze Landstraßen und Lusthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der belustigend war, und das sind sie nicht alle. Ich habe ein Schiff zur Fahrt rings um die Erde aussenden wollen, ich tat es nicht, hätte es aber tun können, und dann dufte ich herrlich, dicht am Tore blühen die schönsten Rosen!”

Der kleine Tuk sah dieselben, es wurde ihm rot und grün vor den Augen, als aber Ruhe in das Farbenspiel kam, da war es ein großer waldbewachsener Abhang dicht bei dem klaren Meerbusen; und hoch oben lag eine prächtige alte Kirche mit zwei hohen spitzen Kirchtürmen. Aus dem Abhange sprangen die Quellen in dicken Wasserstrahlen hervor, so dass es plätscherte, und dicht daneben saß ein alter König mit einer goldenen Krone auf seinem langen Haar, das war König Hroar bei den Quellen, bei der Stadt Roeskilde (Roesquelle), wie man sie jetzt nennt. Und über den Abhang hin gingen alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit den goldenen Kronen auf dem Kopfe, in die alte Kirche, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah Alles, hörte Alles. “Vergiss die Stände nicht!” sagte der König Hroar.

Auf einmal war Alles wieder fort; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt in einem Buch umschlägt. Und nun stand eine alte Frau da, es war eine Jäterin, sie kam von Sorö, wo Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Leinwandschürze über den Kopf und den Rücken hinabhängen; diese war nass, es musste geregnet haben. “Ja, geregnet hat es!” sagte sie und dann erzählte sie manches Belustigende aus der Holbergs Komödien und wusste von Waldemar und Absalon; aber auf einmal schrumpfte sie zusammen und wackelte mit dem Kopf, es war gerade, als ob sie springen wollte. “Koax!” sagte sie, “es ist nass, es ist totenstille in Sorö!” Sie war auf einmal ein Frosch, “Koax!” und dann war sie wieder die alte Frau. “Man muss sich nach der Witterung kleiden!” sagte sie. “Es ist nass, es ist nass! Meine Stadt ist gerade wie eine Flasche; beim Pfropfen muss man hinein, und da muss man auch wieder hinaus! Ich habe früher Fische gehabt, und jetzt habe ich frische rotwangige Knaben auf dem Boden der Flasche; da lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Koax!” Das klang gerade, als ob die Frösche quakten oder als ob man mit großen Stiefeln im Moorwasser geht. Es war immer derselbe Laut, so einförmig, so langweilig, so ermüdend, dass der kleine Tuk fest einschlief und das tat ihm wohl.

Aber auch in diesem Schlaf kam ein Traum, oder was es sonst war; seine kleine Schwester Marie mit den blauen Augen und den gelben gelockten Haaren war auf einmal ein erwachsenes, schönes Mädchen, und ohne Flügel zu haben, konnte sie fliegen, und sie flogen über Seeland, über die grünen Wälder und die blauen Gewässer dahin.

“Hörst du die Hühner krähen, kleiner Tuk? Kikiriki! die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf! Du bekommst einen Hühnerhof, Du wirst ein reicher und glücklicher Mann werden! Dein Haus wird stolz prangen wie der Turm Waldemars, und reich wird es gebaut werden mit Statuen von Marmor, gleich denen von Prästo, du verstehst mich wohl! Dein Name wird mit Ruhm weit durch die Welt fliegen, wie das Schiff, welches von Corsör hätte ausgehen sollen, und in der Stadt Roeskilde – “gedenke der Stände!” sagte der König Hroar – da wirst du gut und klug sprechen, kleiner Tuk, und wenn du dann einst in dein Grab kommst, dann sollst du so ruhig schlummern – “

“Als ob ich in Sorö läge!” sagte Tuk, und dann erwachte er; es war heller Morgen, er konnte sich nicht an das Mindeste von seinem Traum erinnern, aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was geschehen wird.

Er sprang aus dem Bette und las in seinem Buch, und da wusste er seine Aufgabe sogleich. Die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Türe herein und sagte:

“Schönen Dank für deine Hilfe gestern, du liebes Kind! Der liebe Gott lasse deinen besten Traum in Erfüllung gehen!” Der kleine Tuk wusste gar nicht, was er geträumt hatte, aber der liebe Gott wusste es.

Hans Christian Andersen

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