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Wunderschön – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Wunderschön! Ein Märchen von Hans Christian Andersen
Wunderschön! Ein Märchen von Hans Christian Andersen

Der Bildhauer Alfred – du kennst ihn doch! Wir alle kennen ihn, er gewann die große goldene Medaille, bekam ein Reisestipendium ging nach Italien und kehrte wieder zurück in die Heimat; damals war er jung, das ist er zwar noch, aber doch immerhin zehn Jahre älter als zu jener Zeit.

Nach seiner Heimkehr besuchte er eine von den kleinen Provinzstädten der Insel Seeland. Das ganze Städtchen wusste, wer der Fremde war; seinetwegen gab eine der reichsten Familien eine Gesellschaft, und dazu war alles, was etwas war oder etwas besaß, eingeladen; das war ein Ereignis, die Stadt wusste darum, ohne dass es ausgetrommelt worden war. Handwerkslehrlinge und Kinder kleiner Leute, ja, ein paar der kleinen Leute selber standen vor dem Hause und schauten zu den herabgelassenen beleuchtete Vorhängen hinauf; der Nachtwächter konnte sich einbilden, er selber gebe eine Gesellschaft, so viele Leute befanden sich auf der Straße, das schien ein wahres Vergnügen zu sein, und drinnen war auch das Vergnügen. Herr Alfred, der Bildhauer, war da. Er sprach, erzählte, und alle hörten ihm mit Freuden, ja mit einer Art Ehrfurcht zu, doch keiner in dem Maße wie die ältere Witwe eines Beamten; sie war allem gegenüber, was Herr Alfred sprach, ein unbeschriebenes Stückchen Löschpapier, das sofort das Gesprochene in sich ein sog und nach mehr verlangte, sie war höchst empfänglich, unglaublich unwissend, ein weiblicher Kaspar Hauser.

“Rom möchte ich wohl sehen!” sagte sie, “das muss eine liebliche Stadt sein mit all den Fremden, die dort ankommen, beschreiben Sie uns doch Rom. Wie sieht die Stadt denn aus, wenn man zum Tor hineinkommt?”

“Ja, das ist nicht leicht zu beschreiben”, sagte der junge Bildhauer. “Ein großer Platz, mitten auf dem Platz ein Obelisk, welcher tausend Jahre alt ist!”

“Ein Organist” rief die Frau, sie hatte das Wort Obelisk noch nie gehört; einige konnten sich des Lachens nicht erwehren, auch der Bildhauer nicht, allein das Lächeln, welches schon um seine Lippen spielte, glitt vorüber, verlor sich in Betrachtung, denn er gewahrte dicht neben der Frau ein paar große meerblaue Augen, diese gehörten der Tochter, von der sie gesprochen hatte, und wenn man eine solche Tochter hat, kann man nicht einfältig sein! Die Mutter war eine immer sprudelnde Fragenquelle, die Tochter die schöne Najade der Quelle, die immer nur zuhört. Wie war sie wunderschön! Sie war ein Gegenstand der Betrachtung für den Bildhauer, nicht aber der Sprache, und sie sprach auch nicht, wenigstens sehr wenig.

“Hat der Papst eine große Familie?” fragte die Frau. Und der junge Mann antwortete, als sei die Frage besser gestellt gewesen: “Nein, er ist nicht aus einer großen Familie.” “Das meine ich nicht”, wandte die Frau ein; “ich meine, ob er Frau und Kinder hat?” “Der Papst darf sich nicht vermählen”, antwortete er. “Das gefällt mir nicht!” sagte die Frau. Sie hätte nun zwar klügere Fragen stellen können, aber wenn sie nicht gefragt und gesprochen hätte, wie sie es eben tat, ob dann wohl die Tochter sich so an ihre Schulter gelehnt und mit diesem fast rührenden Lächeln um sich geblickt hätte?

Und Herr Alfred sprach, sprach von der Farbenpracht Italiens, von den bläulichen Bergen, dem blauen Mittelmeer, dem blauen Himmel des Südens, einer Herrlichkeit und Schönheit, die man im hohen Norden nur von den blauen Augen der nordischen Jungfrau übertroffen finde. Und das war hier als Anspielung gemeint, aber die, welche diese Anspielung hätte verstehen sollen, tat, als habe sie sie nicht verstanden. und das war den wiederum wunderschön! “Italien!” seufzten einige, “Reisen!” seufzten andere. “Wunderschön! Wunderschön!”

Ja. wenn ich hunderttausend Taler in der Lotterie gewinne”, sagte die Obersteuereinnehmerin, “dann reisen wir: Ich und meine Tochter, und Sie, Herr Alfred, Sie werden uns führen! Wir reisen alle drei und noch ein paar gute Freunde mit uns!” Und dabei nickte sie allen vergnüglich zu, ein jeder konnte sich einbilden: ich bin es, den sie mitnehmen will nach Italien. “Ja, nach Italien wollen wir! Aber wir wollen nicht dahin, wo Räuber sind, wir bleiben in Rom und auf den großen Landstraßen, wo man sicher ist.”

Und die Tochter seufzte ganz unmerklich; wie viel kann nicht in einem kleinen Seufzer liegen oder in ihn hineingelegt werden! Der junge Mann legte viel hinein; die zwei blauen Augen, an diesem Abend ihm zu Ehren so hell, verbargen Schätze, Schätze des Geistes und des Herzens, reich wie alle Herrlichkeiten Roms, und als er die Gesellschaft verließ – ja, da war er ganz weg – weg in das Fräulein.

Das Haus der Frau Obersteuereinnehmerin wurde von allen Häusern dasjenige, welches Herr Alfred, der Bildhauer, am häufigsten besuchte; man sah ein, daß sein Besuch nicht der Mutter gelten konnte, auch wenn er und sie stets diejenigen waren, die das Wort führten, es konnte nur der Tochter wegen sein. Man nannte sie Kala, sie hieß Karen Malena, diese zwei Namen waren in den einen Namen Kala zusammengezogen worden; wunderschön sei sie, aber ein wenig träge, sagten einige; sie schlafe gewiss morgens etwas lange.

“Daran ist sie von Kindheit an gewöhnt”, sagte die Mutter, “sie ist immer ein Venuskind gewesen, und die werden leicht müde. Sie liegt etwas lange, aber davon hat sie ihre klaren Augen!”

Welche Macht lag in diesen klaren Augen, diesen tiefblauen Fluten! Diesen stillen Gewässern mit dem tiefen Grund! So empfand es der junge Mann, er saß fest auf dem tiefen Grund. Er sprach und erzählte, und Mama fragte stets gleich lebhaft, gleich ungeniert und flott, wie bei der ersten Begegnung. Es war eine Freude, Herrn Alfred erzählen zu hören; er erzählte von Neapel, von den Wanderungen auf den Vesuv und zeigte dabei bunte Bilder von mehreren Eruptionen. Und die Frau Obersteuereinnehmerin hatte früher nie davon gehört oder Zeit gehabt, sich die Sache zu überlegen.

“Gott bewahre!” rief sie, “Das ist ja ein feuerspeiender Berg! Kann denn niemand dabei zu Schaden kommen?” “Ganze Städte sind zugrunde gegangen”, antwortete er, “Pompeji, Herculaneum!” “Aber die unglücklichen Menschen! Und das alles haben Sie selber gesehen?” “Nein, von den Ausbrüchen, die hier auf den Bildern vorliegen, sah ich keinen; aber ich werde ihnen ein Bild von mir selber zeigen, die Eruption darstellend, die ich gesehen habe.”

Er legte eine Bleistiftskizze auf den Tisch, und Mama, die in den Anblick der stark kolorierten Bilder vertieft war, sah die blasse Bleistiftskizze an und rief voller Überraschung: “Sie haben ihn weiß speien sehen!?” Es wurde einen Augenblick schwarz in der Hochachtung des Herrn Alfred vor Mama, aber bald begriff er im Lichte Kalas, dass ihre Mutter keinen Farbensinn hatte, weiter war es nichts, sie hatte aber das Beste, das Schönste, sie hatte Kala.

Und Alfred verlobte sich mit Kala, das war ganz natürlich; und die Verlobung stand im Tageblatt des Städtchens. Mama ließ sich dreißig Exemplare davon holen und schnitt die Annoncen heraus und übersandte sie Freunden und Bekannten. Und die Verlobten waren glücklich und die Schwiegermama auch, sie war ja jetzt sozusagen mit Thorwaldsen verwandt.

“Sind Sie doch eine Fortsetzung von Thorwaldsen!” sagte sie zu Alfred. Und es schien Alfred, als habe die Mama hier etwas Geistreiches gesagt. Kala sagte gar nichts, aber ihre Augen leuchteten, ihre Lippen lächelten, jede ihrer Bewegungen war schön, und wunderschön war sie, das kann nicht oft genug gesagt werden.

Alfred machte eine Büste von Kala und seiner Schwiegermama; sie saßen ihm und sahen zu, wie er mit dem Finger den weichen Ton glättete und gestaltete. “Das ist nur unsertwegen”, sagte die Schwiegermama, “dass Sie selber diese gewöhnliche Arbeit tun und nicht Ihren Diener das Zusammenkleben überlassen.”

“Es ist gerade notwendig, daß ich den Ton forme”, antwortete er. “Ja, Sie sind nun einmal stets so artig!” sagte Mama, und Kala drückte schweigend seine Hand, an welcher noch der Ton saß.

Und er entwickelte beiden die Herrlichkeit der Natur in der Schöpfung, wies darauf hin, wie das Lebendige über dem Toten, die Pflanze über dem Mineral, das Tier über der Pflanze, der Mensch über dem Tier stehe; setzt ihnen auseinander, wie Geist und Schönheit sich durch die Form offenbarten und wie der Bildhauer der irdischen Gestalt des Herrlichsten ihre Erscheinung gebe. Kala stand schweigend und nickte dem ausgesprochenen Gedanken zu, Schwiegermama gestand: “Es ist schwer, dem zu folgen! Aber ich komme langsam nach mit den Gedanken, sie drehen sich dabei um und um, aber ich halte sie fest!”

Und die Schönheit hielt Alfred fest, sie erfüllte ihn, fasste und beherrschte ihn. Schönheit leuchtete aus der ganzen Gestalt Kalas, aus ihrem Blick, aus ihren Mundwinkeln, selbst aus der Bewegung ihrer Finger. Alfred sprach dies aus, und er verstand etwas davon, er sprach nur von ihr, dachte nur an sie, die zwei wurden eins, und so sprach auch sie viel, denn er sprach sehr viel.

Das war die Verlobung, und nun kam die Hochzeit mit Brautjungfern und Hochzeitsgeschenken, und diese wurden in der Hochzeitsrede erwähnt.

Schwiegermama hatte im Brauthause am Ende der Tafel Thorwaldsens Büste, angetan mit einem Schlafrock, aufgestellt, er sollte Gast sein, das war ihre Idee; Lieder wurden gesungen und Hochrufe wurden ausgebracht, es war eine vergnügliche Hochzeit, ein schönes Paar: “Pygmalion bekam seine Galathea”, hieß es in einem der Lieder. “Das ist so eine Mythologik!” sagte Schwiegermama.

Tags darauf reiste das junge Paar nach Kopenhagen, um dort zu wohnen. Schwiegermama begleitete sie, um sich des Groben anzunehmen, wie sie sagte, das heißt des Hauswesens. Kala war die Puppe im Puppenhaus. Alles war neu, blank und schön! Dort saßen sie nun alle drei, und Alfred, ja, um eine Redensart zu gebrauchen, die bezeichnet, wie er saß, saß wie die Made im Speck!

Der Zauber der Form hatte ihn betört, er hatte auf das Futteral und nicht auf das gesehen, was im Futteral steckte, und das bedeutet Unglück, viel Unglück im Ehestand; geht das Futteral aus dem Leim und blättert das Flittergold ab, so bereut man den Handel. In einer großen Gesellschaft ist es höchst unangenehm, zu bemerken, dass man beide Knöpfe der Hosenträger eingebüßt hat, und noch obendrein zu wissen, daß man sich nicht auf seine Gürtelschnalle verlassen kann weil man keine Schnalle hat; doch noch schlimmer ist es, in großer Gesellschaft zu hören, dass Frau und Schwiegermama dummes Zeug reden, und dann sich nicht auf sich selber verlassen zu können, dass man irgendeinen witzigen Einfall bekommt, der die Dummheit in den Wind schlägt.

Gar oft saß das junge Ehepaar Hand in Hand da, und er sprach, und sie ließ dann und wann ein Wort wie einen Tropfen fallen, dieselbe Melodie, dieselben zwei, drei Glockentöne. Es war eine Erfrischung für den Geist, wenn Sophie, eine der Freundinnen, dann zu Besuch kam.

Sophie war wenig hübsch; sie war freilich ohne Körperfehler, doch ein wenig schief sei sie allerdings, sagte Kala, aber in der Tat nicht mehr, als es eben von einer Freundin wahrgenommen werden konnte; sie war ein sehr vernünftiges Mädchen, es fiel ihr gar nicht ein, dass sie hier gefährlich werden könnte. Ihre Erscheinung war wie ein erfrischender Luftzug in dem Puppenhaus, und frischer Luft bedurfte man, das sahen sie alle ein; gelüftet werden musste, und so kamen sie denn an die Luft hinaus: Schwiegermama und das junge Ehepaar reisten nach Italien.

“Gottlob, dass wir wieder zu Hause sind in unseren vier Wänden!” sagten Mutter und Tochter ein Jahr später, als sie mit Alfred zurückgekehrt waren. “Es ist kein Vergnügen, zu reisen”, sagte Schwiegermama; “eigentlich ist es langweilig! Ich bitte um Vergebung, dass ich es sage. Ich langweilte mich, obwohl ich meine Kinder bei mir hatte, und es ist teuer, sehr teuer, zu reisen! All die Galerien, die man ansehen muss! All das, wonach man laufen muss! Man muss es ja, weil man sich sonst schämt, wenn man zurückkommt und ausgefragt wird! Und dann muss man sich noch sagen lassen, daß das das Schönste sei, was man anzuschauen vergaß. Mich langweilten auf die Dauer diese ewigen Madonnen, man wird selber zur Madonna dabei!”

“Und was für ein Essen man bekommt!” sagte Kala. “Ja, nicht eine echte Fleischbrühe!” sagte Mama. “Das ist das reinste Elend mit der Kochkunst dort unten!”

Und Kala war von der Reise müde, fortwährend müde, das war das Schlimmste. Sophie wurde ins Haus genommen, und Nutzen brachte sie.

Das müsse man sagen, meinte Schwiegermama, dass Sophie sich aufs Hauswesen und Kunstwesen, kurz, auf alles versteht, worauf sie sich ihren Mitteln entsprechend eigentlich nicht verstehen konnte, und sie sei dazu ein ehrenwertes, treues Mädchen; das habe sie so recht gezeigt, als Kala krank lag und dahinsiechte.

Wo das Futteral alles ist, da muss das Futteral aushalten, sonst ist es aus – und es war aus mit dem Futteral – Kala starb. “Sie war wunderschön!” sagte die Mutter, “sie war wirklich etwas ganz anderes als die Antiken, die sind so ramponiert! Kala war ganz und eine Schönheit muss ganz sein.”

Alfred weinte, und die Mutter weinte, und beide trugen schwarze Kleider; Mama stand Schwarz besonders gut, und sie trug auch am längsten Trauer, und obendrein erlebte sie noch die Trauer, dass Alfred sich wieder verheiratete und zwar mit Sophie, “die gar kein Äußeres hatte”.

“Er ist bis zum Extrem gegangen!” sagte Schwiegermama, “ist von dem Wunderschönsten ans Hässlichste geraten, hat seine erste Frau vergessen können. Die Männer haben keine Ausdauer! Mein Mann war anders! Er starb auch vor mir.”

“Pygmalion bekam seine Galathea!” sagte Alfred; “ja, so hieß es im Hochzeitslied; ich hatte mich einst wirklich in die schöne Statue verliebt, die in meinen Armen zum Leben erwachte! Aber die verwandte Seele, die uns der Himmel sendet, einen Engel, der mit uns empfinden und mit uns denken, uns erheben kann, wo wir gebeugt werden, den habe ich erst jetzt gefunden und gewonnen. Du kamst, Sophie, nicht in Formschönheit, in Strahlenglanz – aber schöner als nötig! Die Hauptsache bleibt Hauptsache! Du kamst und lehrtest den Bildhauer, dass sein Werk nur Ton, Staub ist, nur eine Form in diesem vergänglichen Material, dessen inneren Kern wir suchen müssen. Arme Kala! Unser Erdenleben war wie ein Reiseleben! Dort oben, wo man sich in Sympathie vereinigt, sind wir einander vielleicht halb entfremdet!”

“Das war nicht liebevoll gesprochen!” sagte Sophie, “nicht christlich! Droben, wo nicht geheiratet wird, sondern, wie du sagst, die Seelen einander anziehen durch Sympathie, dort, wo alles Herrliche sich entfaltet und erhebt, wird ihre Seele vielleicht so vollkräftig klingen, dass sie die meinige übertönt, und du – du wirst dann wieder deinen ersten Liebesausruf tun, wieder ausrufen: Schön! Wunderschön!”

Hans Christian Andersen 

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