Zwei Frösche | Ein Märchen aus Japan

Zwei Frösche - ein Märchen aus Japan
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Auf der Insel Hondo in Japan lebten zwei Frösche. Einer hauste in einem Graben außerhalb der Stadt Osaka, während – der andere in einem kristallklaren Strom wohnte, nahe bei Kioto. Keiner der Frösche wusste etwas vom andern, denn zwischen ihnen lag ein hoher Berg. Aber an demselben Tag, in genau demselben Augenblick beschloss jeder der zwei Frösche, über den Berg zu steigen, um die Stadt zu besuchen, die auf der anderen Seite lag. Der Frosch aus Osaka wollte die Stadt Kioto sehen, wo der Mikado – der Kaiser – seinen Palast hatte. Der Frosch aus Kioto wünschte Osaka zu sehen, wo es überhaupt keine Paläste gab Am nächsten Morgen ganz früh zogen die Frösche los. Der eine Frosch ging auf dieser Seite des Berges hinauf, der andere auf jener. Der Weg war lang und beschwerlich, aber endlich erreichten sie die Spitze des Berges in genau demselben Augen blick und an derselben Stelle. Jeder Frosch setzte sich im hohen Gras nieder und glotzte eine lange Weile auf den andern.

Endlich fragte der Frosch aus Osaka: „Wohin gehst du, vornehmer Wanderer?“ Der Frosch aus Kioto räusperte sich ein paar Mal, ehe er antwortete „nach Osaka, edler Wanderer.“ „Wirklich?“ rief der Frosch aus Osaka. „Dann lass dir sagen, dass deine Mühe sich nicht lohnt! Ich selbst komme von dort, es ist ein armseliger Ort, voll Grabenwasser. Was mich betrifft, ich will Kioto besuchen.“

„Wirklich Kioto?!“ quakte der Frosch aus dieser Stadt. „Es ist schon wahr, dass es in Kioto kein Grabenwasser gibt. Hast du je an einem Strom gelebt, der den ganzen Tag funkelt? Das ermüdet die Augen!“

Die zwei Frösche saßen da, glotzten einander an und redeten eine lange Zeit nichts.
Dann seufzte der Frosch aus Osaka: „Bin ich schon eine Seite Berges heraufgeklettert, so möchte ich nicht die andere hinuntersteigen, wenn unten nichts Lohnenswertes zu sehen ist. Wenn wir wenigstens größere Tiere wären, dann könnten wir von unserer Höhe hinunterschauen und prüfen, ob die Stadt, die wir besuchen wollen, unsere weite Reise wert ist. Aber leider, ich kann über dieses hohe Gras nicht hinaussehen, und du kannst es auch nicht.“

Der Frosch aus Kioto räusperte sich in auffallender Weise und meinte schließlich: „Doch, wir werden es schaffen, mein Freund. Zwar sind wir beide sehr klein, aber wir Frösche aus Kioto sind berühmt wegen unserer Intelligenz. Lass mich eine Weile überlegen.“

Der Frosch aus Kioto schloss die Augen und dachte angestrengt nach; schließlich sagte er: „Ich habe es! Wenn du mir behilflich bist, mich auf meine Hinterbeine zu stellen, dann helfe ich auch dir, dass du auf deinen stehen kannst. So werden wir beide höher sein als das Gras, und jeder kann auf die Stadt hinunterschauen, die er zu besuchen wünscht.“

Nun richtete der Frosch aus Osaka seinen Blick auf die Stadt Kioto, und der Frosch aus Kioto richtete den seinen auf Osaka. Dann half einer dem andern, sich auf seine Hinterbeine zu stellen und stützte ihn mit seinen kurzen Vorderbeinen. Auf diese Weise standen die zwei Frösche einander lange Zeit gegenüber jeder betrachtete eine andere Stadt und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Aber die dummen Frösche hatten vergessen, dass sich ihre riesigen Augen beinahe an der Spitze ihrer Köpfe befanden. Jeder hatte den Blick auf die Stadt seiner Träume gerichtet gehabt, während er am Boden gehockt hatte. Aber jetzt, da er aufrecht stand, waren seine Augen nach hinten gerichtet, und jeder der beiden Frösche blickte auf die Stadt, aus der er soeben gekommen war.

„Pff!“ quakte der Frosch aus Osaka enttäuscht. „Was sehe ich? Kioto schaut ja aus wie die Zwillingsschwester meines alten Osaka. Ich kann mir die Reise wirklich ersparen.“

„Pff!“ quakte auch der Frosch aus Kioto enttäuscht. „Was sehe ich? Osaka schaut genauso aus wie Kioto. Da kann ich mir die mühsame Reise dorthin ersparen.“

Damit ließ jeder der Frösche den andern los, und beide plumpsten ins hohe Gras. Dann, da sie ja beide Japaner waren, verneigten sie sich höflich voreinander und gingen auf getrennten Wegen heimwärts.
Bis zum letzten Tag ihres Lebens glaubten die zwei Frösche, dass die Städte Kioto und Osaka einander glichen wie zwei Eier. Keiner der Frösche erfuhr jemals, dass er sich geirrt hatte.

Märchen aus Japan 

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