Melonentöchterchen | Ein Märchen aus Japan

Das Melonentöchterchen - ein Märchen aus Japan
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Vor langer Zeit lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. In einem Jahr nun säten sie Gelbmelonen und da wuchs auf einem der Beete ein auffallend dicker Stengel hervor. Wie er so heranwuchs, bekam er seltsamer Weise nur unfruchtbare Blüten,*** fruchttragende Blüten aber – woran lag es wohl – trug er keine einzige. Die beiden Alten jedoch sagten: „Das ist eine sonderbare Sache! In der übrigen Saat haben wir uns doch nicht geirrt!“ Indessen wuchs und wuchs dieser eine Stängel, und als er über die Höhe des Beetes hinausgewachsen war, da trieb er eine einzige, ungewöhnlich große, fruchttragende Blüte hervor. Die große Frucht, welche dann über die Höhe des Beetes heranwuchs, erreichte bald den Umfang etwa einer großartigen Gelbmelone; dann aber wurde sie dicker, immer länger und hing weiter herunter und reichte schließlich bis zum Erdboden. „Das ist aber eine riesengroße Gelbmelone geworden!“ riefen die beiden Alten und freuten sich außerordentlich. „Diesen Kerl wollen wir völlig ausreifen lassen und seinen Samen gewinnen!“ überlegten sie und warteten, bis er sich gelb färbte. Als die beiden die Melone gemeinsam geerntet und nach Hause getragen hatten, plumpste sie, weil sie so schwer war, auf den Vorplatz nieder. Dabei barst sie und bekam der Länge nach einen Sprung. Aus diesem Spalt aber drang die weinende Stimme eines kleinen Kindes. Die alte Frau holte es heraus und ein rundliches kleines Mädchen kam zur Welt. Da es aus einer Melone geboren war, gaben ihr die beiden Alten den Namen Urihime, Melonentöchterchen, und zogen es voller Liebe auf. Nach und nach wurde es größer und wuchs zu einem wunderschönen Mädchen heran. Dieses Märchen war eine Meisterin im Weben und bald die beste im Dorf. Tag für Tag setzte sich Urihime im Obergeschoß an den Webstuhl; ten – kara – kan, ten – kara – kan! so webte sie mit aller Kraft und stets webte sie Stoffe, über die man in bewunderndes Staunen geriet. Wenn der alte Mann und die alte Frau einmal in die Stadt zu einem Tempelbesuch gingen, um ihren Dank abzustatten, kauften sie auf dem Rückweg immer als Geschenk für Urihime Süßkartoffeln, die sie liebte. „Urihime, jetzt sind wir wieder zurück! Wir haben den Tempel besucht, unseren Dank abzustatten, und haben auch Süßkartoffeln gekauft, die du gern hast!“, so riefen sie. Da sprang Urihime von ihrem Webstuhl auf, zupfte eins*** ums andere die Härchen aus den Knollen und aß sie dann.
Damals lebte ein böses Geschöpf, Amanojaku genannt. Wenn die Erwachsenen nicht zu Hause waren, kam es in die Häuser der Mädchen und behexte sie.
Hatte Amanojaku sie behext, änderte sich die Gemütsart selbst der folgsamsten Mädchen und sie wurden ungeschickt. Eines Tages sprachen die beiden Alten:
„Urihime, das Oberhaupt des Tempels kommt in die Stadt. Wir möchten gern hingehen, um ihm unseren Respekt zu erweisen. Wer auch immer kommt: Bis zu unserer Rückkehr darfst du das Obergeschoß nicht verlassen und die Tür nicht öffnen!“ Dann verriegelten sie die Tür ganz und gar und machten sich beide auf den Weg. Als Urihime nun ganz allein war und im Obergeschoß – ten-kara-kann –ten – kara – kann – am Webstuhl webte, nahm Amanojaku die Stimme eines Mädchens aus der Nachbarschaft an und begann zu rufen: „Urihime, Urihime!“ – „Was ist los?“ – „Gehen wie spielen, ja? Laß mich hinein!“ – „Väterchen und Mütterchen sind heute nicht da, deshalb darf ich nicht mit dir spielen.“ – „Ein bisschen mach doch die Tür auf!“ – „Väterchen und Mütterchen haben gesagt, daß ich die Tür nicht aufmachen darf, weil Amanojaku kommen könnte.“ – „Nun öffne die Tür wenigstens einen Fingerbreit! Wenn ich dein Gesicht nicht sehen kann, ist es nicht nett.“ Urihime aber dachte, daß Amanojaku unmöglich hereinkommen könnte, selbst wenn sie käme, und schob den Fensterflügel im Obergeschoß eben einen Fingerbreit auf. „Urihime, so kann ich dein Gesicht immer noch nicht sehen. So öffne doch wenigstens noch einen Fingerbreit mehr!“ Und Urihime machte wenigstens zwei Fingerbreit auf. Da Urihime nun schon zwei Fingerbreit geöffnet hatte und nichts geschehen war, öffnete sie nun drei Fingerbreit. Da bemerkte sie, daß mit schrecklichen Krallen bewachsene Finger sich in den Spalt am Fensterflügel im Obergeschoß schoben. Krachend stieß Amanojaku ihn auf und kam in den Oberstock hereingesprungen. Urihime verlor vor Schrecken die Besinnung und stürzte zu Boden. Als aber nach einiger Zeit das Bewußtsein wiederkehrte, war sie nicht mehr die ursprüngliche Urihime. Amanojaku hatte sie behext und ihr schreckliche Gesichtszüge gegeben. Lärmend, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob der Faden riß, begann sie, am Webstuhl zu weben.

Nach einer Weile kamen der alte Mann und die alte Frau aus der Stadt zurück. Als Geschenk hatten sie Süßkartoffeln gekauft. „Urihime, wir sind jetzt zurück!“
riefen sie. Als die beiden aber die Tür öffneten und eintraten, war Urihime ganz anders als gewöhnlich. Polternd sprang sie vom Obergeschoß herab, schrie mit heiserer Stimme: „Wo ist mein Geschenk?“, entriß mit Gewalt die Süßkartoffeln und ohne auch nur die Härchen auszureßen, aß sie sie auf, so wie sie eben waren.
Die beiden Alten blickten starr vor Staunen; nachdem aber Urihime die Süßkartoffeln aufgegessen hatte, stieg sie wieder polternd ins Obergeschoß hinauf. Jan – gara, jan – gara begann sie lärmend am Webstuhl zu weben. Während nun der Alte bei sich ***überlegte, was denn für eine Veränderung geschehen sei, und dabei auf das Feld hinter dem Haus hinausschaute, kam gerade ein prächtiger Vogel von der Vorderseite des Hauses her geflogen. Er ließ***sich auf dem nahen Feigenbaum nieder und wollte dann, unaufhörlich zwitschernd wieder zu vorderen Seite des Hauses fliegen. Als aber der Alte das Ohr neigte und lauschte, was er wohl zwitschere, sang er: Am Webstuhl von Urihime, von Amanojaku besessen. Das junge Ding, vertreibe es, ho ho! Darauf flog der kleine Vogel wieder zur Vorderseite des Hauses. „Also brachte das Scheusal Amanojaku es fertig, mein Melonentöchterchen zu behexen!“ dachte sich da der Alte und eilte ins Obergeschoß hinauf. Urihime blickte bei dem Geräusch erschreckt auf, der Alte aber machte ein Gesicht, als ob er jeden Augenblick beißen wolle. Da sprang sie vom Webstuhl auf, stolperte bei ihrer Flucht über das Querholz und stürzte zu Boden. Dabei schlug sie heftig mit Gesicht und Brust auf und konnte sich kein zweites Mal erheben. Aus dem Körper von Urihime aber kam ein schwarzer Vogel von der Größe etwa einer Taube, schrie schrecklich auf und flog davon. Die alte Frau stieg bei diesem Laut bestürzt ins Obergeschoß hinauf: Da lag Urihime am Boden und daneben stand versteinert der alte Mann. Die alte Frau war entsetzt und klammerte sich zusammen mit dem alten Mann an den Körper von Urihime. Während sie aber unter Tränen: „Urihime, Urihime!“ riefen, wurde Urihime allmählich immer starrer. Im Laufe der Zeit dann verwandelte sich ihr Körper in eine lange Melone. Daher sagt man, daß in den Gelbmelonen, die auf dem Feld der beiden Alten wachsen, sie in einem jeden Blatt und gewiß in einer jeden Melonenfrucht verkörpert sei.

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