Der goldene Rehbock – ein Märchen von Ludwig Bechstein

Der goldene Rehbock - ein Märchen von Ludwig Bechstein
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Es waren einmal zwei arme Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, das Mädchen hieß Margarete, der Knabe hieß Hans. Ihre Eltern waren gestorben, hatten ihnen auch gar kein Eigentum hinterlassen, daher sie ausgehen mussten, um durch Betteln sich fortzubringen. Zur Arbeit waren beide noch zu schwach und klein; denn Hänschen zählte erst zwölf Jahre und Gretchen war noch jünger.

Des Abends gingen sie vors erste beste Haus, klopften an und baten um ein Nachtquartier, und vielmal waren sie schon von guten mildtätigen Menschen aufgenommen, gespeist und getränkt worden; auch hatte mancher und manche Barmherzige ihnen ein Kleidungsstückchen zugeworfen.

So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen, welches einzeln stand; da klopften sie ans Fenster, und als gleich darauf eine alte Frau heraus sah, fragten sie diese, ob sie hier nicht über Nacht bleiben dürften? Die Antwort war:

„Meinetwegen, kommt nur herein!“ Aber wie sie eintraten, sprach die Frau: „Ich will euch wohl über Nacht behalten, aber wenn es mein Mann gewahr wird, so seid ihr verloren; denn er isst gern einen jungen Menschenbraten, daher er alle Kinder schlachtet, die ihm vor die Hand kommen!“

Da wurde den Kindern sehr angst; doch konnten sie nunmehr nicht weiter, es war schon ganz dunkle Nacht geworden. So ließen sie sich gutwillig von der Frau in einem Faß verstecken und verhielten sich ruhig. Einschlafen konnten sie aber lange nicht, zumal da sie nach einer Stunde die schweren Tritte eines Mannes vernahmen, der wahrscheinlich der Menschenfresser war.

Des wurden sie bald gewiß, denn jetzt fing er an mit brüllender Stimme auf seine Frau zu zanken, daß sie keinen Menschenbraten für ihn zugerichtet hatte. Am Morgen verließ er das Haus wieder und tappte so laut, daß die Kinder, die endlich doch eingeschlummert waren, darüber erwachten.

Als sie von der Frau etwas zu frühstücken bekommen hatten, sagte diese: „Ihr Kinder müßt nun auch etwas tun, da habt ihr zwei Besen, geht oben hinauf und kehrt mir meine Stuben aus, deren sind zwölf, aber ihr kehrt davon nur elf, die zwölfte dürft ihr um Himmelswillen nicht aufmachen. Ich will derzeit einen Ausgang tun. Seid fleißig, daß ihr fertig seid, wenn ich wieder komme.“

Die Kinder kehrten sehr emsig, und bald waren sie fertig. Nun mochte Gretchen doch gar zu gerne wissen, was in der zwölften Stube wäre, das sie nicht sehen sollten, weil ihnen verboten war, die Stube zu öffnen. Sie guckte ein wenig durchs Schlüsselloch und sah da einen herrlichen, kleinen, goldenen Wagen, mit einem goldenen Rehbock bespannt.

Geschwind rief sie Hänschen herbei, daß er auch hinein gucken sollte. Und als sie sich erst tüchtig umgesehen, ob die Frau nicht heimkehre, und da von dieser nichts zu sehen war, schlossen sie schnell die Türe auf, zogen den Wagen samt Rehbock heraus, setzten drunten sich hinein in den Wagen und fuhren auf und davon.

Aber nicht lange, so sahen sie von weitem die alte Frau und auch den Menschenfresser sich entgegen kommen, gerade des Wegs, den sie mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten. Hänslein sprach: „Ach, Schwester, was machen wir? Wenn uns die beiden Alten entdecken, sind wir verloren.“

„Still!“ sprach Gretchen, „ich weiß ein kräftiges Zaubersprüchlein, welches ich noch von unserer Großmutter gelernt habe:
Rosenrote Rose sticht;
Siehst du mich, so sieh mich nicht!“

Und als bald waren sie verwandelt in einen Rosenstrauch. Gretchen wurde zur Rose, Hänslein zu Dornen, der Rehbock zum Stiele, der Wagen zu Blättern.

Nun kamen beide, der Menschenfresser und seine Frau, daher gegangen und letztere wollte sich die schöne Rose abbrechen, aber sie stach sich so sehr, daß ihre Finger bluteten und sie ärgerlich davon ging. Wie die Alten fort waren, machten sich die Kinder eilig auf und fuhren weiter und kamen bald an einen Backofen, der voll Brot stund.

Da hörten sie aus dem selben eine hohle Stimme rufen: „Rückt mir mein Brot, rückt mir mein Brot.“ Schnell rückte Gretchen das Brot und tat es in ihren Wagen, worauf sie weiter fuhren. Da kamen sie an einen großen Birnbaum, der voll reifer schöner Früchte hing, aus diesem tönte es wieder: „Schüttelt mir meine Birnen, schüttelt mir meine Birnen!“

Gretchen schüttelte sogleich, und Hänschen half gar fleißig auflesen und die Birnen in den goldenen Wagen schütten. Und wieder kamen sie an einen Weinstock, der rief mit angenehmer Stimme: „Pflückt mir meine Trauben, pflückt mir meine Trauben!“ Gretchen pflückte auch diese und packte sie in ihren Wagen.

Unterdessen aber waren der Menschenfresser und seine Frau daheim angelangt und hatten mit Ingrimm wahrgenommen, daß die Kinder ihren goldenen Wagen samt Rehbock gestohlen hatten, gerade wie diese beiden ebenfalls vor langen Jahren Wagen und Rehbock gestohlen und noch dazu bei dem Diebstahl auch einen Mord begangen hatten, nämlich den rechtmäßigen Eigentümer erschlagen.

Der mit dem Rehbock bespannte Wagen war nicht nur an und für sich von großem Wert, sondern er besaß auch noch die vortreffliche Eigenschaft, daß, wo er hin kam, von allen Seiten Gaben gespendet wurden, von Baum und Beerenstrauch, von Backofen und Weinstock.

So hatten denn die Leute, der Menschenfresser und seine Frau, lange Jahre den Wagen, wenn auch auf unrechtmäßige Weise, besessen, hatten sich gute Eßwaren spenden lassen und dabei herrlich und in Freuden gelebt. Da sie nun sahen, daß sie ihres Wagens beraubt waren, machten sie sich flugs auf, den Kindern nachzueilen und ihnen die köstliche Beute wieder abzujagen.

Dabei wässerte dem Menschfresser schon der Mund nach Menschenbraten; denn die Kinder wollte er sogleich fangen und schlachten. Mit weiten Schritten eilten die beiden Alten den Kindern nach und wurden die selben bald von ferne ansichtig, weil sie voraus fuhren.

Die Kinder kamen jetzt an einen großen Teich und konnten nicht weiter, auch war weder eine Fähre noch eine Brücke da, dass sie hinüber hätten flüchten können. Nur viele Enten waren darauf zu sehen, die lustig umher schwammen. Gretchen lockte diese ans Ufer, warf ihnen Futter hin und sprach:
„Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, dass ich hinüber kann kommen!“

Da schwammen die Enten einträchtig zusammen, bildeten eine Brücke, und die Kinder samt Rehbock und Wagen kamen glücklich ans andere Ufer. Aber flugs hinterdrein kam auch der Menschenfresser und brummte mit hässlicher Stimme:
„Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, daß ich hinüber kann kommen!“

Schnell schwammen die Entchen zusammen und trugen die beiden Alten hinüber – meint ihr? nein! in der Mitte des Teiches, da das Wasser am tiefsten war, schwammen die Entchen auseinander, und der böse Menschenfresser nebst seiner Alten plumpsten in die Tiefe und kamen um.

Und Hänschen und Gretchen wurden sehr wohlhabende Leute, aber sie spendeten auch von ihrem Segen den Armen viel und taten viel Gutes, weil sie immer daran dachten, wie bitter es gewesen, da sie noch arm waren und betteln gehen mussten.

Ludwig Bechstein
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