Vor grauen Jahren lebte tief im Gebirge ein altes Ehepaar. Obgleich die beiden eigentlich wenig zu einander passten, denn der Mann hatte ein gutes, braves Gemüt, die Frau aber besaß einen zänkischen, neidischen Charakter, so hausten sie doch ziemlich einträchtig zusammen und waren in Ehren alt geworden. Eines Tages saß der Greis, wie er dies oft zu tun pflegte, vor seiner Hütte, und da gewahrte er rings umherschauend einen Raben, der einen jungen Sperling verfolgte. Der kleine Spatz piepte gar ängstlich, und der große Rabe schlug mit den Flügeln und war schon im Begriffe, mit seinem gewaltigen Schnabel das matte Tierchen zu töten, als noch gerade zu rechter Zeit der gute alte Mann herzu lief und den Raben verscheuchte, der sich auch alsbald ärgerlich krächzend in die Lüfte erhob. Gutmütig nahm der Greis den Sperling in die Hand und trug ihn vorsichtig nach Hause. Das Herz klopfte dem Tierchen so ängstlich in der Brust, dass der Alte, von Mitleid erfüllt, ihm Trost zusprach, und als er in sein Zimmer trat, da setzte er das Vögelchen in ein Bauer, in dem es sich recht bald erholte. Als es nun wieder fröhlich zwitschernd in dem Bauer umherhüpfte, da fütterte es der alte Mann mit lauter guten Sachen; auch machte er die Thür des Bauers jeden Morgen auf, damit es sich frei und nicht gefangen fühlen sollte. Der Sperling war darüber guter Dinge; er benutzte diese Freiheit und flog in der Hütte hin und her; kam aber eine Katze, eine Ratte oder sonst ein Feind in Sicht, dann flog unser Spätzlein stets in das schützende Vogelhäuschen zurück. Der Alte hatte über den kleinen Vogel eine unsagbare Freude, und wie er sah, dass derselbe aus Dankbarkeit bei ihm blieb und nicht aus der Hütte flog, da hörte er nicht auf, die Klugheit und Zahmheit des lieben Tierchens zu preisen. Seine Frau aber, die alte böse Sieben, die ärgerte sich über den Vogel und kehrte dabei so recht wieder ihren bösen Sinn heraus; sie gönnte dem niedlichen kleinen Tiere das Futter nicht, das ihr Mann ihm täglich brachte, und diesem gönnte sie wieder die Freude nicht, die er an dem Vogel hatte. Es ist doch abscheulich, dass es so manchen missgünstigen, bösartigen Menschen gibt, der es nicht lassen kann, seinem lieben Nächsten das Leben zu verbittern. Zu diesen gehörte auch die Frau des guten alten Mannes; sie schalt und maulte fortwährend über den Vogel, und als eines Tages der Mann nicht daheim war, da ließ sie ihrem langgenährten Hasse gegen den armen Spatzen freien Lauf. Brummend verrichtete sie ihre Arbeiten im Hause und warf drohende Blicke auf den nichts ahnenden Vogel, der lustig hin und her flatterte. Sie stand gerade am Waschgefäße, in dem sie ein Gewand wusch; nachdem dies geschehen, holte sie Stärke herbei, um demselben neuen Glanz zu geben. Und siehe, da kam der Vogel herzu, setzte sich auf den Rand des Waschgefäßes und pickte ein wenig von der Stärke auf. Da aber ergriff das wütende Weib eine Schere, packte den Vogel und wollte ihn erst umbringen; doch das Gewissen mochte ihr schlagen, und so ließ sie ihm das Leben. Aber damit er nicht mehr fressen und naschen könnte, wollte sie ihm die Zunge abschneiden. Der arme Sperling zog sein Köpfchen zurück, aber er bekam doch einen tiefen Schnitt in die Zunge und schrie laut auf vor Schmerz, so dass ihn die böse Frau losließ. Da flog er in Angst und Schrecken auf und davon, zum Hause hinaus, auf Nimmerwiedersehen.
Als nach einiger Zeit der Alte heimkehrte, fragte er gleich nach seinem Liebling, und da erzählte ihm seine Frau die ganze Begebenheit und zankte ihn noch gehörig dafür aus, dass er sich um einen kleinen Vogel so anstellen könne, auf den doch gar nichts ankomme. Sie sagte, sie sei froh, dass der Spatz nicht mehr da sei, und seine Naschhaftigkeit hätte endlich einmal bestraft werden müssen. Der Alte aber war so betrübt, dass er ohne alle Scheu vor seiner bösen Frau ihr rund heraus erklärte, sie sei ein hartherziges Geschöpf und hätte den armen Vogel für sein Vergehen viel zu hart bestraft; und als er ihr so seine Meinung gesagt, da setzte er sich traurig vor die Hütte und spähte nach dem klemm Sperling, und so tat er es von nun an Tag für Tag. Doch die Zeit verstrich, ohne dass das Vöglein zurückkam, und so ergab sich der Greis allgemach in sein Schicksal und gab seinen Liebling verloren.
Nun begab es sich einstmals, dass der alte Mann an einem schönen, warmen Sommertage ausging und im kühlen Schatten der Bäume langsam dahin schlenderte. Ein schönes Bambusdickicht lag vor ihm, und dahin lenkte er seine Schritte. Als er nun in dasselbe eintrat, sah er plötzlich ein wunderhübsches Gärtchen, das er früher nie bemerkt. Und als er verwundert umherblickte, da gewahrte er auch ein nettes, sauberes Häuschen, und aus dem Häuschen trat ein wunderhübsches, freundliches Mädchen hervor. Dasselbe schritt durch den Garten und öffnete ihm mit herzlichem Gruße die Pforte. »Komm herein, mein lieber, alter Freund,« sprach des hübsche Mädchen, »du hast mich nun endlich wieder gefunden! Ich bin dein kleiner Sperling, dem du das Leben gerettet und den du so treu verpflegt hast!« Voll Freude schlug der alte Mann in die Hände, und als er der Einladung des lieblichen Mädchens folgte und sah, wie wunderhübsch es wohnte, da kannte seine Verwunderung keine Grenzen. Indessen hatte er keine Zeit, über diese wunderbare Begebenheit nachzudenken, denn kaum war er in das Häuschen eingetreten und hatte auf dem schönen Kissen, das man für ihn hinlegte, Platz genommen, da musste er essen; das hübsche Mädchen brachte ihm viele Delikatessen, die er sonst nicht bekam, und dabei bediente sie ihn so gut und liebenswürdig, dass er sich nach Herzenslust pflegte und oft vor Freuden laut auflachte. Kaum war das Mahl verzehrt, so nahm das Mädchen sein Saitenspiel zur Hand und machte mit seinen Kameradinnen, die es herbeigerufen, schöne Musik; es ward auch getanzt, und da verging die Zeit so herrlich, dass der alte Mann gar nicht merkte, wie es dunkel wurde; auch dachte er nicht im mindesten daran, dass seine Frau sicherlich kein kleines Gezänk anfangen würde, wenn er so spät nach Hause käme. Nein, in diesen glückseligen Augenblicken konnte der gute Greis in der Tat an so etwas nicht denken, und so nahm er auch ohne alles Bedenken die Einladung seiner lieben Freundin an, dass er über Nacht da bleiben möchte. Er schlief auf den reichen, schönen Decken, die man ihm auf den Boden ausbreitete, herrlich bis an den lichten Morgen, und als die Sonne durch das Bambusgezweig blitzte, da machte er sich bereit, Abschied zu nehmen, und dankte herzlich für die freundliche Bewirtung. Doch so ohne weiters ließ ihn seine kleine Freundin nicht scheiden. »Wie kannst du denken,« sprach sie, »dass ich dich ohne ein Geschenk ziehen lasse?« Und damit ließ sie ein paar Kasten herbeitragen, von denen der eine klein, der andre aber groß und schwer war. Bescheiden, wie der gute Alte stets war, wählte er auch jetzt den kleinen Kasten, den er mit vielen Dankesworten in ein Tuch schlug und auf den Rücken nahm. Nun geleitete ihn das hübsche Mädchen aus dem Hause und durch das Gärtchen und sagte ihm Lebewohl.
Leichten Mutes und dankbaren Herzens ging nun der Alte seines Weges und kam wohlbehalten in seiner Hütte an. Aber nun könnt ihr euch wohl denken, wie er bei seinem Eintritt in das Zimmer empfangen wurde! Hui, das gab ein Keifen und Schelten, als wie von bösen Geistern. Doch der gute Greis ließ seine zänkische Frau gewähren; er ließ sie poltern, so viel sie wollte, und dachte bei sich: »zuletzt hört sie doch auf, denn zu einem Zanke, der lange andauert, gehören immer zwei.« Damit hatte er sich stets getröstet, wenn seine Frau böser Laune war, und deshalb steckte er auch diesmal ein Pfeifchen an und setzte sich nieder, um auszuruhen. In seinem Herzen war eitel Freude und Lust; er konnte die lieben Spätzchen, die ihn so schön bewirtet, nicht vergessen, und als nun seine Blicke ganz unwillkürlich auf den hübschen Kasten fielen, den er zum Geschenk erhalten, da nahm er ihn zur Hand und öffnete ihn, um zu erfahren, was darinnen sei. Aber was war das? Lauter blitzendes Gold und Edelgestein! Er saß ganz starr und steif vor Verwunderung, während seine Frau, die neugierig herzugetreten war, sofort den ganzen Inhalt auf die Matte schüttete und die Kostbarkeiten auseinander suchte. Nun leuchteten ihre Augen, und ganz freundlich bat sie ihn mit sanften Worten, ihr umständlich sein Abenteuer zu erzählen. Der Alte willfahrte auch ihrem Wunsch und berichtete alles, was ihm mit den Sperlingen begegnet war, ohne die geringste Kleinigkeit auszulassen. Voller Staunen hörte die Frau ihm zu, doch als seine Erzählung bis zu den beiden Kasten gekommen war, und als sie nun hörte, daß ihr Mann den großen schweren Kasten ausgeschlagen und dafür den kleinen genommen hatte, da ging der Tanz von neuem los und das Zankmaul stand nicht eher still, als bis der alte Mann ganz genau den Weg zu den lieben Sperlingen beschrieben hatte. Sofort legte die Frau ihre besten Kleider an und machte sich auf den Weg. In ihrer Gier aber ging sie so rasch von dannen, dass sie nicht gehörig auf den Pfad achtete, und erst nach manchem Hin- und Herlaufen sehr mühsam das Häuschen der Sperlinge fand. Und als sie dasselbe endlich in dem niedlichen Garten vor sich sah, da klopfte sie nicht bescheiden, wie es sich gehört und wie es schicklich ist, an die Thür, nein, sie drang ohne weiteres durch den Garten bis an das Haus, als ob es ihr gehöre. Die Sperlinge waren ganz erschrocken darüber, und das schöne Mädchen, das seine Feindin wohl erkannte, beriet sich erst längere Zeit mit ihren Genossen, was zu tun sei. Doch so ohne weiteres durfte man die alte Frau nicht aus dem Hause werfen, das wäre nicht schön gewesen, und so machten sie alle gute Miene zum bösen Spiele und hießen den unliebsamen Gast willkommen. Schöner Kuchen und Wein wurde herbeigeschafft, und als sich die Alte weidlich gepflegt hatte, da glaubten die Sperlinge, sie würde nun gehen; doch weit gefehlt! »Wollt ihr mir denn nicht auch ein Abschiedsgeschenk geben?« fragte sie endlich geradezu, da sie merkte, daß man sie gar nicht zum Dableiben nötigte. »Von Herzen gern,« entgegnete das schöne Mädchen und ließ sofort wieder zwei ebensolche Kasten bringen, wie voriges Mal. Ohne alles Besinnen griff die alte Frau nach dem großen, schweren Kasten, den sie auch ohne weiteres aus den Rücken nahm, und mit flüchtigem Abschiedsgruß eilte sie fort.
Doch so rasch, wie sie vermeinte, kam sie nicht nach Hause denn der große Kasten wurde schwerer und schwerer, so dass sie keuchend unter der Last schier zusammenbrach. Nur ihre Habgier und ihr Geiz stachelten sie immer wieder zu neuen Anstrengungen an, und so kam sie mit Aufgebot der letzten Kräfte endlich mit dem Kasten in ihre Hütte zurück. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, so sank sie ermattet zu Boden; nachdem sie sich indessen nur einigermaßen wieder erholt hatte, machte sie sich daran, den Verschluss des schweren Kastens zu öffnen. Der Abend war bereits hereingebrochen, und es war im Hause ganz dunkel; doch das machte dem gierigen Weibe nichts aus. Sie nahm sich nicht die Zeit, Licht anzuzünden und hatte keine Ruhe, ehe sie die kostbaren Schätze untersucht hatte, die sie im Kasten vermutete. So löste sie denn hastig, wenn auch nicht ohne Mühe, den Verschluss, und endlich sprang der Deckel in die Höhe. Aber, o Schrecken! keine Kleinodien und Kostbarkeiten kamen zum Vorschein, sondern scheußliche Gespenster mit glühenden Augen, mit schlangenartigen Schwänzen und mit scharfen Krallen stürzten aus dem Kasten hervor und peinigten das böse Weib auf alle erdenkliche Weise. Und so bekam sie für alle ihre Schlechtigkeit, für ihre Habgier und für ihre Grausamkeit ihre wohlverdiente Strafe.
Ein Märchen aus Japan
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