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Der Flachs – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Der Flachs - ein Märchen von Hans Christian Andersen
Der Flachs - ein Märchen von Hans Christian Andersen

Der Flachs blühte. Er hatte schöne blaue Blumen, die so zart wie die Flügel einer Motte, und noch viel feiner sind! – die Sonne beschien den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn und das tut ihm ebenso wohl, wie es kleinen Kindern tut, wenn sie gewaschen werden, und dann einen Kuss von der Mutter bekommen, sie werden ja viel schöner davon, und das wurde der Flachs auch.

“Die Leute sagen, dass ich ausgezeichnet gut stehe”, sagte der Flachs, “und dass ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiss der Glücklichste von allen! Ich habe es gut, und es wird etwas aus mir werden! Wie der Sonnenschein belebt und wie der Regen schmeckt und erfrischt! Ich bin ganz überglücklich, ich bin der Allerglücklichste!”

“Ja, ja, ja!” sagten die Zaunpfähle, “ihr kennt die Welt nicht, aber wir, wir haben Knorren in uns”; und dann knarrten sie ganz jämmerlich:

“Schnipp-Schnapp-Schnurre,

Basselurre,

Aus ist das Lied!”

“Nein, das ist es nicht!” sagte der Flachs. “Die Sonne scheint am Morgen, der Regen tut wohl, ich kann hören wie ich wachse, und kann fühlen, dass ich blühe! Ich bin der Allerglücklichste.”

Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopf fassten und mit der Wurzel heraus rissen, das tat weh; er wurde ins Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war gräulich!

“Es kann einem nicht immer gut ergehen!” sagte der Flachs. “Man muss etwas durchmachen, dann weiß man etwas!”

Aber es wurde allerdings sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, was wusste er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre rur! Da war es nicht möglich die Gedanken beisammen zu behalten.

“Ich bin außerordentlich glücklich gewesen!” dachte er bei aller seiner Pein. “Man muss froh sein über das Gute, was man genossen hat. Froh, froh, oh!” – und das sagte er noch, als er auf den Webstuhl kam, und so wurde er zu einem herrlichen großen Stück Leinwand. Aller Flachs, jeder einzelne Stängel kam in das eine Stück.

“Aber das ist ja ganz außerordentlich! Das hätte ich nie geglaubt! Nein, wie das Glück mir doch wohl ist! Ja die Zaunpfähle wussten wahrlich gut Bescheid mit ihrem:

“Schnipp-Schnapp-Schnurre,

Basselurre!”

Das Lied ist keineswegs aus! Nun fängt es erst recht an! Es ist herrlich! Ja, ich habe gelitten, aber jetzt ist dafür auch etwas aus mir geworden; ich bin der glücklichste von allen! – Ich bin so stark und so weich, so weiß und so lang! Das ist ganz etwas anderes, als nur Pflanze zu sein, selbst wenn man Blumen trägt! Man wird nicht gepflegt, und bekommt nur Wasser, wenn es regnet! Jetzt habe ich Aufwartung! Das Mädchen wendet mich jeden Morgen und mit der Gießkanne erhalte ich jeden Abend ein Regenbad. Ja, die Frau Pastorin hat selbst eine Rede über mich gehalten und gesagt, dass ich das beste Stück im ganzen Kirchspiel sei. Glücklicher kann ich gar nicht werden!”

Nun kam die Leinwand ins Haus, dann kam sie unter die Schere. Wie man schnitt, wie man mit der Nähnadel hinein stach! Das war wahrlich kein Vergnügen. Aber aus der Leinwand wurden zwölf Stück Wäsche, von der Art, die man nicht gern nennt, die aber alle Menschen haben müssen; es waren zwölf Stücke davon.

Ei sieh, jetzt ist erst etwas aus mir geworden! Das war also meine Bestimmung! Das ist ja herrlich; nun schaffe ich Nutzen in der Welt, und das ist es, was man soll, das ist das wahre Vergnügen. Wir sind zwölf Stück geworden, aber wir sind doch alle ein und dasselbe, wir sind ein Dutzend! Was ist das für ein erstaunliches Glück!”

Jahre verstrichen, – und dann konnten sie nicht länger halten. “Einmal muss es ja doch vorbei sein!” sagte jedes Stück. “Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!” Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, so dass sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wussten selbst nicht, wie es ihnen geschah – und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier!

“Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!” sagte das Papier. “Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!” Es wurden die aller schönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und das war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren. Es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war.

“Das ist mehr als ich mir träumen ließ, als ich noch eine kleine blaue Blume auf dem Felde war! Wie konnte es mir einfallen, dass ich dazu gelangen werde, Freude und Kenntnisse unter die Menschen zu bringen! Ich kann es selbst noch nicht begreifen! Aber es ist nun einmal wirklich so! Der liebe Gott weiß, dass ich selbst durchaus nichts dazu getan habe, als was ich nach schwachem Vermögen für mein Dasein tun musste! Und doch gewährt er mir eine Freude nach der anderen; jedes Mal, wenn ich denke: “Aus ist das Lied!” dann geht es gerade zu etwas höherem und Besserem über. Nun werde ich gewiss auf Reisen in der ganzen Welt herum gesandt werden, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist das Wahrscheinlichste! Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede Blume die schönsten Gedanken! Ich bin der Allerglücklichste!”

Aber das Papier kam nicht auf Reisen, es kam zum Buchdrucker und da wurde alles, was darauf geschrieben stand, zum Druck zu einem Buch gesetzt, ja zu vielen hundert Büchern, denn so konnten unendlich viele Leute mehr Nutzen und Freude davon haben, als wenn das einzige Papier, auf dem der Geschriebene stand, die ganz Welt durchlaufen hätte und auf dem halben Wege schon abgenutzt worden wäre.

“Ja, das ist freilich das Allervernünftigste!” dachte das beschriebene Papier. “Das fiel mit gar nicht ein! Ich bleibe zu Hause und werde in Ehren gehalten, wie ein alter Großvater! Ich bin es, der beschrieben worden ist, die Worte flossen aus der Feder gerade in mich hinein. Ich bleibe und die Bücher laufen herum! Nun kann ordentlich was ausgerichtet werden! Nein, wie bin ich froh, wie bin ich glücklich!”

Dann wurde das Papier in ein Päckchen gesammelt und in ein Fach gelegt. “Nach vollbrachter Tat ist gut ruhen!” sagte das Papier. “Es ist ganz in Ordnung, dass man sich sammelt und über das nachdenkt, was in einem wohnt. Jetzt weiß ich erst recht, was in mir enthalten ist! Und sich selbst kennen, das ist erst der wahre Fortschritt. Was nun wohl kommen wird? Irgend ein Fortschritt geschieht, es geht immer vorwärts!” –

Eines Tages wurde alles Papier auf den Feuerherd gelegt, denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die Butter und Zucker darin einwickelte. Alle Kinder im Hause standen rings herum, sie wollten es auflodern sehen, sie wollten die vielen roten Feuerfunken in der Asche sehen, die gleichsam davonlaufen und erlöschen, einer immer nach dem anderen, ganz geschwind – das sind die Kinder, die aus der Schule kommen, und der allerletzte Funke ist der Schulmeister; oft glaubt man, dass er schon fort ist, aber dann kommt er auf einmal noch hinterher.

Und alles Papier lag in einem Bündel auf dem Feuer. Uh, wie flammte es empor! “Uh!” sagte es, und gleichzeitig war da alles eine Flamme; die ging höher empor, als der Flachs je seine kleine blaue Blume hatte erheben können, und glänzte, wie die weiße Leinwand nie hätte glänzen können. Alle die geschriebenen Buchstaben wurden augenblicklich ganz rot und alle Worte und Gedanken gingen in Flammen auf.

“Nun gehe ich gerade zur Sonne hinauf!” sprach es in der Flamme, und es war, als ob tausend Stimmen das mit einem Munde sagten, und die Flamme schlug durch den Schornstein oben hinaus. – – feiner als die Flammen, dem menschlichen Auge ganz unsichtbar, schwebten kleine Wesen, an Zahl den Blumen, die der Flachs getragen hatte, gleich. Sie waren noch leichter, als die Flamme, welche sie führte, und als diese erlosch und von dem Papier nur noch die schwarze Asche übrig war, tanzten sie noch einmal darüber hin, und wo sie dieselbe berührten, erblickte man ihre Fußstapfen, das waren die roten Funken. “Die Kinder kamen aus der Schule und der Schulmeister war der Allerletzte.” Das war ein Freude mit anzusehen, die Kinder des Hauses standen und sangen bei der toten Asche:

“Schnipp-Schnapp-Schnurre,

Basselurre,

Aus ist das Lied!”

Aber die kleinen unsichtbaren Wesen sagten alle: “Das Lied ist nie aus, das ist das schönste von allem! Ich weiß es, und deswegen bin ich der Allerglücklichste!”

Aber das konnten die Kinder weder hören, noch verstehen und das sollten sie auch nicht, denn Kinder brauchen nicht alles zu wissen.

Hans Christian Andersen

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