đŸŒș Die Christblume | Adventzeit | Weihnachtsgeschichte

Christblume - eine Weihnachtsgeschichte
Novellen - Kurzgeschichten - BĂŒcher - Daniela Noitz

Einsam ist die Blume, von der ich euch heute erzĂ€hlen will. Sie kennt nicht die frohen Tage des FrĂŒhlings noch die duftreichen NĂ€chte des Sommers. Keine flĂŒsternden GefĂ€hrtinnen wachsen neben ihr auf, kein Vogel singt sie in TrĂ€ume. In Schnee und Eis muss sie schauen, der Nordwind streicht ĂŒber sie hin, und das eintönige KrĂ€chzen der Rabenvögel ist ihre Musik.

Und doch ist sie weiß und zart wie nur eine ihrer Schwestern; anmutig wĂ€chst sie aus dem Kranze grĂŒner BlĂ€tter empor, und ihr tiefer Kelch hĂŒtet die Geheimnisse der Blumen. Und sie fĂŒhlt keinen Winterschmerz! Still und stolz steht sie in ihrer Kraft. Sie weiß das sie begnadet ist: die einzige Blume, die im Winter blĂŒhen darf, die einzige Blume, die das heilige Christfest feiern darf mit den Bewohnern der Erde. Sage mir, Schwester der Lilie, was rief dich ins winterliche Leben? Was gab dir die Macht, der KĂ€lte und dem Sturm zu trotzen? Warum schlĂ€fst du nicht im Frieden der Erde?
Die BlĂ€tter rauschen mir Töne und Akkorde zu, sie raunen und rauschen – Silben höre ich, Worte – und nun will ich ihre Geschichte erzĂ€hlen.

Es ist Totensonntag. Auf dem Wege zum Kirchhof geht eine stille dunkle Schar Menschen. sie tragen TotenkrĂ€nze, Tannenreiser und Immortellen, immergrĂŒne Eichen und rote Vogelbeeren. Sie gehen schweigend, als dĂ€chten sie vergangener Tage oder trĂ€umten in banger Hoffnung von kĂŒnftiger Helle. Der letzte im Zug ist ein kleiner Knabe, der auf der Schulter ein grĂŒnes Holzkreuz trĂ€gt, eine schwere Last fĂŒr einen jungen Körper! Es ist ein armseliges Kreuz, roh gefĂŒgt, mit abgeschrĂ€gten Ecken. Des Knaben Blicke aber ruhen liebevoll darauf; seine jungen, ungeĂŒbten HĂ€nde haben wohl selbst das Holz geschnitzt.

Aus der Kapelle des Totenhauses lĂ€utet die kleine Glocke, und andĂ€chtig zieht die Schar der trauernden durch das Portal. Ein leiser Wind geht mit ihnen; es sind die Todesengel, die dem Zuge unsichtbar folgen. Vom breiten Mittelwege aus verteilen sich lautlos die GĂ€ste der Toten. Bald hat auch der blasse Knabe das Grab seiner Mutter gefunden. Es ist ein frischer HĂŒgel; ohne Schmuck und ohne Pflege liegt er im kĂŒhlen FrĂŒhnebel. Der Kleine kniet nieder, pflanzt sein Kreuzlein zu HĂ€upten der Toten und betet leise. Der Engel, der ihm folgte, beugt sich nieder, um die Inschrift zu lesen. „Liebe Mutter“, steht in großen, kindlichen Buchstaben auf dem Querholz, sonst nichts. Da kĂŒsst der Engel das Kind aufs Haupt.
Die andern GrĂ€ber schmĂŒckten sich nach und nach mit den Blumen und KrĂ€nzen der Leidtragenden; des Knaben Augen aber sahen angstvoll ĂŒber das leere Grab, und ein Zucken des Schmerzes ging ĂŒber das kleine Gesicht. „Lieber Gott,“ betete er leise, „lass meiner Mutter auch eine schöne Blume wachsen, ich muss fort ins Weisenhaus und kann ihr keine mehr bringen. Du aber kannst es, lieber Gott, du bist gut und allmĂ€chtig, und ich bitte dich so sehr.“
Da kĂŒsste der Engel das Kind zum zweiten Male, und ein stiller Schein der Gewissheit kam in die braunen Augen des Knaben. Er rĂŒckte das Kreuzlein noch einmal zurecht, kĂŒsste das Grab seiner Mutter und folgte den andern Leuten, die den Heimweg antraten.
Der Engel aber flog heim zu Gott und brachte ihm den Wunsch des Knaben. „Es ist Winter,“ sprach der Herr, „alle Pflanzen schlafen; soll ich diese Kindes wegen meine ewigen Gesetze Ă€ndern?“ „Deine Allmacht, o Herr, ist grĂ¶ĂŸer als dein Gesetz, deine GĂŒte reicher als dein Wille!“ Da lĂ€chelte der Herr, dass die Wolken erstrahlten und ein Klingen durch die Sterne ging. „Komm“, sagte er zum Engel, und sie traten schweigend in den Garten des Paradieses.
Dort blĂŒhen die Blumen, die achtlose HĂ€nde auf Erden fortgeworfen und achtlose FĂŒĂŸe zertreten haben. Schöner blĂŒhen sie hier im himmlischen Licht als in der irdischen Sonne; und als der Schöpfer zu ihnen trat, reckten sich Ranken und GrĂ€ser ihm entgegen, und die Kelche strömten ĂŒber von Duft und Glanz.

Gott aber trat zu einer weißen Lilie, nahm die zitternde aus dem Schoße des Himmels, kĂŒsste sie und gab sie dem Engel. „Dem Erdenkinde zur Freude und meinem Sohne zum Angedenken blĂŒhe diese Botin des Himmels kĂŒnftig auf Erden in Eis und Schnee. Die Winde sollen ihren Samen durch die LĂ€nder des Nordens tragen; die WĂ€rme meines Willens ströme durch ihre Wurzeln und bleibe ihr fĂŒr die Dauer der irdischen Zeit!“
„Du aber lege das Zeichen des Todes ab und schĂŒtze den Knaben mit dem warmen Herzen. Breite deine FlĂŒgel um ihn aus, dass der Same, der in seiner Seele keimt, auch in Frost und DĂŒrre nicht ersterbe, und die Blume der Menschenliebe daraus erblĂŒhe; sie ist holder als alle Blumen des Paradieses.“
Dankbar neigte sich der Engel, kĂŒsste des Herrn Gewand und ging seinen Befehlen zu folgen.
So ist die Christblume auf die Erde gekommen, und fromme Menschen fĂŒhlen ihren heiligen Ursprung.

Paula Dehmel 

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