Zwei BrĂŒder – eine Geschichte

Zwei BrĂŒder - eine Kurzgeschichte
Novellen - Kurzgeschichten - BĂŒcher - Daniela Noitz

Auf einer der dĂ€nischen Inseln, wo alte Thingsteine, der UrvĂ€ter Gerichtssitzes, sich in den Kornfeldern erheben und große BĂ€ume in den BuchenwĂ€ldern, liegt ein kleines StĂ€dtchen, dessen niedrige HĂ€user mit roten Ziegeln gedeckt sind. In einem dieser HĂ€user wurden ĂŒber glĂŒhenden Kohlen auf dem offenen Herd wunderliche Dinge gebraut, es wurde in GlĂ€sern gekocht, gemischt und destilliert, und KrĂ€uter wurden zerhackt und in Mörsern zerstoßen; ein Ă€lterer Mann stand dem Ganzen vor. »Man muß nur das Rechte tun«, sprach er, »ja, das Rechte, das Richtige, die Wahrheit in jedem erschaffenen Teil muß man kennen und sich an sie halten«.

In der Stube bei der braven Hausfrau saßen ihre zwei Söhne, noch klein, aber mit erwachsenen Gedanken. Auch die Mutter hatte ihnen stets von Recht und Gerechtigkeit gesprochen, sie ermahnt, an der Wahrheit festzuhalten, die sei das Antlitz Gottes in dieser Welt.

Der Ă€lteste der Knaben sah schelmisch und unternehmend aus, seine Lust war es, von den NaturkrĂ€ften, von Sonne und Sternen zu lesen, kein MĂ€rchen liebte er so. Oh, wie schön mußte es sein auf Entdeckungsreisen zu gehen oder herauszufinden, wie die FlĂŒgel der Vögel nachzumachen seien, und dann fliegen zu können; ja, das herauszufinden, das sei das Rechte. Vater hatte recht, und Mutter hatte Recht; die Wahrheit hielt die Welt zusammen.

Der jĂŒngere Bruder war stiller und vertiefte sich ganz in die BĂŒcher. Las er vom Jakob, der sich in Schafsfelle kleidete, um Esau zu Ă€hneln und sich dadurch das Erstgeburtsrecht zu erschleichen, so ballte sich seine kleine Faust im Zorn gegen den BetrĂŒger; las er von den Tyrannen und all dem Unrecht und der Bosheit der Welt, so standen ihm TrĂ€nen in den Augen, der Gedanke an das Recht, an die Wahrheit, die siegen sollte und mußte, erfĂŒllte ihn ganz. Eines Abends – er lag schon im Bett, aber die VorhĂ€nge waren noch nicht ganz zusammengezogen, das Licht strahlte zu ihm hinein – hatte er sein Buch mit ins Bett genommen, er wollte durchaus die Geschichte von Solon zu Ende lesen. Und die Gedanken hoben und trugen ihn gar wunderlich weit, es war ihm, als wĂŒrde das Bett ein Schiff, das mit vollen Segeln dahinjagte. TrĂ€umte ihm, oder was ging mit ihm vor? Es glitt dahin ĂŒber rollende GewĂ€sser, die großen Seen der Zeit, er vernahm die Stimme Solons; ihm verstĂ€ndlich und doch in fremder Zunge vernahm er den dĂ€nischen Wahlspruch: »Mit Gesetz regiert man das Land!«

Und der Genius des Menschengeschlechts stand in der Ă€rmlichen Stube, beugte sich ĂŒber das Bett und drĂŒckte dem Knaben einen Kuß auf die Stirn: »Werde stark im Ruhm und stark im Kampf des Lebens! Die Wahrheit in der Brust, fliege dem Land der Wahrheit entgegen!«

Der Ă€ltere Bruder war noch nicht zu Bett, er stand am Fenster, schaute auf die Nebel hinaus, die sich von den Wiesen erhoben; es waren nicht die Elfen, die dort tanzten, wie die alte Kindermuhme ihm gesagt hatte, sondern er wußte es besser, es waren DĂ€mpfe, wĂ€rmer als die Luft, und deshalb stiegen sie. Eine Sternschnuppe leuchtete und die Gedanken des Knaben waren im Nu von den DĂŒnsten der Erde oben bei dem leuchtenden Meteor. Die Sterne des Himmels blitzten, es war, als hingen lange, goldene FĂ€den von ihnen herab bis auf die Erde.

»Fliege mit mir«, sang und klag es in das Herz des Knaben hinein, und der mĂ€chtige Genius der Geschlechter, schneller als der Vogel, als der Pfeil, als alles Irdische, was fliegen kann, trug ihn hinaus in den Raum, wo der Strahl von Stern zu Stern die Himmelskörper aneinanderband; unsere Erde kreiste in der dĂŒnnen Luft; eine Stadt schien ganz in der NĂ€he der anderen zu liegen. Durch die SphĂ€ren klang es:

»Was ist nah, was ist fern, wenn der mĂ€chtige Genius des Geistes dich erhebt!« Und wiederum stand der Kleine am Fenster und schaute hinaus, der jĂŒngere Bruder lag in seinem Bett; die Mutter rief sie bei Namen: Anders Sandöe und Hans Christian!

DĂ€nemark kennt sie, die Welt kennt sie; die beiden BrĂŒder Oersted.
Hans Christian Ørsted [ˈƓrsdɛð] (* 14. August 1777 in RudkĂžbing; † 9. MĂ€rz 1851 in Ko
penhagen) war ein dĂ€nischer Physiker und Chemiker. 1820 entdeckte Ørsted die magnetische Wirkung des elektrischen Stromes und gilt als MitbegrĂŒnder der ElektrizitĂ€tslehre und Elektrotechnik. Ørsted war 1829 maßgeblich beteiligt an der GrĂŒndung der Polytechnischen Lehranstalt (dĂ€nisch Den Polytekniske LĂŠreanstalt) in Kopenhagen, dem VorgĂ€nger der heutigen Technischen UniversitĂ€t DĂ€nemarks. Seit der Eröffnung war er bis zu seinem Tode Rektor der Schule. Er gilt als eine der fĂŒhrenden Persönlichkeiten des Goldenen Zeitalters DĂ€nemarks.
Anders SandĂže Ørsted [ˈƓrsdɛð] (* 21. Dezember 1778 in RudkĂžbing; † 1. Mai 1860) war ein dĂ€nischer Politiker und Jurist. Er hatte von 1853 bis 1854 das Amt des dĂ€nischenMinisterprĂ€sidentens inne.

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