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Des Jungesellen Nachtmütze – ein Märchen von Hans Christian Andersen

Des Jungesellen Nachtmütze - ein Märchen von Hans Christian Andersen
Des Jungesellen Nachtmütze - ein Märchen von Hans Christian Andersen

Da gibt es in Kopenhagen eine Gasse, die den wunderlichen Namen „Hyskengasse“ trägt. Und weshalb heißt sie so, was hat es zu bedeuten? Es soll deutsch sein, aber damit tut man den Deutschen unrecht. „Häuschen“ müßte es heißen und das bedeutet: kleine Häuser. Diese hier waren damals, und das ist viele Jahre her, eigentlich nichts anderes als hölzerne Buden, fast wie man sie heutzutage auf den Märkten aufgestellt sieht. Ein wenig größer waren sie wohl und mit Fenstern versehen, aber die Scheiben waren aus Horn oder Blasenhaut, denn in jener Zeit waren gläserne Scheiben zu teuer für die Häuser. Aber die Zeit liegt so weit zurück, daß Urgroßvaters Urgroßvater, wenn er davon sprach, es auch schon die alten Zeiten nannte. Es ist mehrere hundert Jahre her. Damals trieben die reichen Kaufleute in Bremen und Lübeck den Handel in Kopenhagen. Sie selbst kamen nicht herauf, sie sandten nur ihre Handlungsgehilfen, und diese wohnten in den Holzbuden der „Kleinhäuschengasse“ und besorgten den Verkauf von Bier und Gewürz. Das deutsche Bier war so gut, und es gab so viele Sorten: Bremer, Prysinger, Emser Bier – ja, Braunschweiger Mumme, und dann alle die Gewürze wie Safran, Anis, Ingwer und besonders Pfeffer. Dieser spielte die Hauptrolle hier, und daher trug er auch den deutschen Handlungsgehilfen in Dänemark den Namen „Pfefferschwengel“ ein. Sie mußten sich zuhause sonderbarerweise verpflichten, sich hier oben nicht zu verheiraten. Viele von ihnen wurden hier alt; selbst mußten sie für sich sorgen, im Hause umherpusseln und kramen, selbst ihr Feuer machen – daher wurden einige ganz eigenartige alte Burschen mit wunderlichen Gedanken und Gewohnheiten. Nach ihnen nannte man bald jede unverheiratete Mannsperson, die in ein gesetzteres Alter kam, einen „Pfefferschwengel.“ Alles dies muß man wissen, um die Geschichte zu verstehen.

Man macht sich über den Junggesellen lustig und sagt, er solle sich seine Nachtmütze über die Ohren ziehen und zu Bett gehen:

„Schneidet Holz zu Schwellen,
Ihr alten Junggesellen.
Die Nachtmütz liegt bei Euch im Bett,
Doch kein Feinsliebchen weich und nett.“

Ja, so singt man von ihnen! Man verspottet den Junggesellen und seine Nachtmütze – just weil man ihn und sie so wenig kennt – ach, die Nachtmütze soll man sich nie herbeiwünschen! Und weshalb nicht? Ja, hört nur!

Die Kleinhäuschengasse war in jenen früheren Zeiten nicht gepflastert, die Leute traten von einem Loch in das andere; es war so enge dort, und die Häuser lehnten sich über die Gasse hinweg so dicht zueinander, daß oft von einem Haus zum anderen ein Seil gespannt wurde, und immer war in dieser Enge ein gewürziger Geruch von Pfeffer, Safran und Ingwer. Hinter dem Tische standen nicht viel junge Leute, meist waren es alte Burschen, doch waren sie nicht, wie wir sie uns denken, mit Perücke oder Nachtmütze bekleidet oder mit Kniehosen und hoch hinaufgeknöpften Westen und Röcken, nein, so ging Urgroßvaters Urgroßvater gekleidet, und so steht er noch heute auf dem gemalten Bilde, die Pfefferschwengel hatten nicht die Mittel, sich malen zu lassen, und doch wären sie es wert gewesen, daß man von ihnen ein Bild aufbewahrt hätte, so wie sie dort hinter den Tischen standen und im Feiertagsrocke zur Kirche wanderten. Der Hut war breitkrempig und hatte einen hohen Kopf, oft schmückte ein junger Gesell ihn mit einer Feder. Das wollene Hemd war von einem heruntergeklappten Leinenkragen bedeckt, das Wams war eng anliegend und fest zugeknöpft, der Mantel hing lose darüber und die Hosen reichten bis in die breiten Schnabelschuhe hinab, denn Strümpfe trugen sie nicht. Im Gürtel steckten Messer und Löffel und meist noch ein großes Messer, um sich damit wehren zu können, davon mußte man in jenen Zeiten oft Gebrauch machen.

Ganz, wie eben beschrieben, ging an den Feiertagen der alte Anton, einer der ältesten Pfefferschwengel der Kleinhäuschengasse, gekleidet, nur hatte er nicht den hochköpfigen Hut, sondern eine Kapuze auf, und unter dieser noch eine gestrickte Mütze, eine richtige Nachtmütze. An die hatte er sich so gewöhnt, daß sie immer auf seinem Kopfe sitzen blieb. Er besaß zwei Stück davon. Er war zum Malen wie geschaffen; dürr wie ein Stock, mit tiefen Runzeln um Mund und Augen, hatte er lange, knochige Finger und buschige, graue Augenbrauen. Über dem linken Auge hing ein zottiges Büschel Haare, schön war es nicht, aber man konnte ihn sogleich daran erkennen. Man wußte von ihm, daß er aus Bremen war, und doch kam er eigentlich nicht daher, nur sein Herr wohnte dort. Er selbst stammte aus Thüringen, aus der Stadt Eisenach, dicht unter der Wartburg. Davon pflegte der alte Anton nicht viel zu sprechen, desto mehr dachte er daran.

Die alten Handlungsgehilfen in der Gasse kamen selten zusammen, jeder blieb in seinem Laden, der zeitig am Abend geschlossen wurde. Dann sah es dort düster aus, nur ein matter Lichtschein drang durch das kleine Hornfenster am Dache hinaus, hinter dem gewöhnlich der alte Gesell mit seinem deutschen Gesangbuche auf dem Bettrand saß und sein Abendlied sang. Mitunter ging er auch bis tief in die Nacht hinein im Hause umher und pusselte allerlei Kram zurecht, kurzweilig war es sicherlich nicht. Fremd im fremden Lande leben zu müssen ist ein bitteres Los, niemand bekümmert sich um einen, außer, wenn man jemandem im Wege steht.

Oft, wenn draußen die Nacht so recht dunkel war und der Regen hernieder strömte, konnte es hier gar schauerlich und öde sein. Laternen gab es nicht, außer einer einzigen, die sehr klein war; sie hing gerade vor dem Bilde der heiligen Jungfrau, das an dem einen Ende der Gasse an die Wand gemalt war. Man hörte nur das Regenwasser laufen und die Tropfen gegen das Balkenwerk schlagen. Solche Abende waren lang und einsam, wenn man sich nicht etwas vornahm. Auspacken und einpacken, Tüten drehen und die Waagschale putzen ist nicht jeden Tag notwendig, aber dann nimmt man etwas anderes vor, und das tat der alte Anton. Er nähte sich selbst seine Sachen zurecht oder Dickte seine Schuhe. Wenn er dann endlich ins Bett kam, so behielt er nach seiner Gewohnheit seine Nachtmütze auf, zog sie noch ein wenig tiefer über den Kopf, aber sogleich schob er sie wieder hinauf, um zu sehen, ob auch das Licht gut gelöscht wäre. Er befühlte es, drückte noch einmal auf den Docht, legte sich dann auf die andere Seite und zog die Nachtmütze wieder herab. Doch oft kam ihm im gleichen Augenblick der Gedanke, ob wohl auch unten im Laden jede Kohle in dem kleinen Öfchen ganz ausgebrannt und gut abgedämpft sei. Ein kleiner Funke könne vielleicht doch zurückgeblieben sein, sich entzünden und Schaden anrichten. Und so kroch er wieder aus seinem Bette heraus und kletterte die Leiter hinunter, denn eine Treppe konnte man es nicht nennen. Kam er dann zum Ofen, so war dort kein Fünkchen mehr zu sehen, und er konnte wieder umkehren. Doch oft mußte er auf halbem Wege stehen bleiben, denn plötzlich war es ihm ungewiß, ob er auch die eiserne Stange vor die Tür gelegt und die Fensterläden verriegelt habe. Ja, dann mußte er auf seinen dünnen Beinen wieder hinab. Er fror und die Zähne klapperten ihm, wenn er wieder ins Bett kroch, denn die Kälte tritt erst dann richtig zutage, wenn sie weiß, daß sie nun fort soll. Er zog das Bett höher hinauf, die Nachtmütze tiefer über die Augen und wandle die Gedanken fort von des Tages Werk und Beschwer. Aber zu einer richtigen Behaglichkeit kam es doch nicht, denn nun kamen die alten Erinnerungen und hingen ihre Gardinen auf, darinnen stecken manchmal Stecknadeln, an denen man sich sticht, daß einem die Tränen in die Augen treten. Und so geschah es auch dem alten Anton oft; es kamen ihm heiße Tränen, die klarsten Perlen. Sie fielen auf die Bettdecke oder auf den Fußboden nieder und erklangen schmerzlich wie eine zerspringende Herzenssaite. Sie verdunsteten und loderten dabei zu einer hellen Flamme empor, die ein Lebensbild beleuchteten, das nie aus seinem Herzen schwand. Trocknete er dann seine Augen mit der Nachtmütze, so wurden Träne und Bild zerdrückt; doch die Quellen versiegten nicht, sie lagen in seinem Herzen. Die Bilder kamen nicht, wie sie in der Wirklichkeit aufeinander gefolgt waren. Oft kamen allein die schmerzlichen, oft aber leuchteten auch die wehmütig frohen auf, aber just diese waren es, die die stärksten Schatten warfen.

„Schön sind die Buchenwälder Dänemarks“ hieß es, doch schöner noch erhoben sich vor Antons innerem Auge die Buchenwälder um die Wartburg. Mächtiger und ehrwürdiger erschienen ihm die alten Eichen droben um die stolze Ritterburg, wo die Schlingpflanzen über Felsen und Steinblöcke hinabhingen. Süßer dufteten dort des Apfelbaumes Blüten als im dänischen Land; lebhaft fühlte und empfand er es noch immer. Eine Träne rollte, erklang und leuchtete auf. Deutlich konnte er in dem klaren Schein zwei kleine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, spielen sehen. Der Knabe hatte rote Wangen, blondes Lockenhaar und ehrliche blaue Augen, das war des reichen Krämers Sohn, der kleine Anton, er selbst; das kleine Mädchen hatte braune Augen und schwarzes Haar; keck und klug sah sie aus, es war des Bürgermeisters Tochter, Molly. Die beiden spielten mit einem Apfel, sie schüttelten ihn und horchten, wie innen die Kerne klapperten. Dann schnitten sie ihn mitten durch, und jedes bekam ein Stück. Die Kerne teilten sie zwischen sich und aßen sie auf bis auf einen, der sollte in die Erde gelegt werden, meinte das kleine Mädchen.

„Dann sollst Du einmal sehen, was daraus wird; es wird etwas daraus, was Du Dir gar nicht denken kannst! Ein ganzer Apfelbaum wird daraus, aber nicht gleich.“

Den Kern pflanzten sie in einen Blumentopf, beide waren sehr eifrig bei der Sache. Der Knabe bohrte mit seinem Finger ein Loch in die Erde, das kleine Mädchen legte den Kern hinein und beide bedeckten ihn mit Erde.

„Nun darfst Du ihn aber morgen nicht wieder herausnehmen, um zu sehen, ob er Wurzeln bekommen hat,“ sagte sie, „das darf man nicht. Ich habe es mit meinen Blumen auch getan, aber nur zweimal, ich wollte sehen, ob sie wüchsen. Damals wußte ich es nicht besser, und die Blumen starben!“

Der Blumentopf blieb bei Anton, und jeden Morgen, den ganzen Winter lang, sah er nach ihm, doch es war nur die schwarze Erde zu sehen. Nun kam das Frühjahr, die Sonne schien warm, da sproßten aus dem Blumentopf zwei kleine grüne Blättchen hervor.

„Das bin ich und Molly!“ sagte Anton, „ist das hübsch, ach, ist das einzigschön!“

Bald kam auch ein drittes Blatt; wen sollte das bedeuten? Da kam wieder eins und noch eins. Jeden Tag und jede Woche wurde das Pflänzchen größer und schließlich wurde es ein ganzer Baum. Alles spiegelte sich in der einen Träne ab, die zerdrückt wurde und verschwand. Aber sie konnte wieder hervorquellen – aus des alten Antons Herzen.

Dicht bei Eisenach dehnt sich eine Kette steiniger Berge aus, einer von ihnen ist stumpf und rund und trägt weder Baum noch Strauch noch Gras, er wird der Venusberg genannt. In seinem Innern wohnt Frau Venus, eine Göttin aus heidnischer Zeit, die auch Frau Holle genannt wird; das wußte und weiß noch jetzt jedes Kind in Eisenach. Zu sich hinein hatte sie den Ritter Tannhäuser gelockt, den Minnesänger aus der Wartburg Sängerkreis.

Die kleine Molly und Anton standen oft an dem Berge, da sagte sie einmal: „Getraust Du Dich anzuklopfen und zu rufen: Frau Holle, Frau Holle, mach auf, hier ist Tannhäuser“ Doch das wagte Anton nicht. Molly wagte es. Doch nur die Worte: „Frau Holle! Frau Holle“ rief sie laut und deutlich, den Rest ließ sie im Winde verfliegen, so undeutlich, daß Anton überzeugt war, daß sie eigentlich gar nichts gesagt habe. So keck sah sie dabei aus, so keck wie zuweilen, wenn sie mit anderen Mädchen ihm im Garten begegnete, die ihn alle küssen wollten, gerade weil sie wußten, daß er nicht geküßt sein wollte und um sich schlug; sie allein wagte es.

„Ich darf ihn küssen!“ sagte sie stolz und nahm ihn um den Hals; darin lag ihre Eitelkeit, und Anton fand sich darein und dachte nicht weiter darüber nach. Wie reizend sie war und wie keck! Frau Holle im Berge sollte auch schön sein, aber ihre Schönheit, sagte man, sei die verführerische Schönheit des Bösen. Die höchste Schönheit dagegen sei die der heiligen Elisabeth, der Schutzheiligen des Landes, der frommen thüringischen Fürstin, deren gute Taten in Sage und Legende so manchen Ort hier umraunten. In der Kapelle hing ihr Bild von silbernen Lampen umgeben; – doch sie glich Molly nicht im entferntesten.

Der Apfelbaum, den die beiden Kinder gepflanzt hatten, wuchs Jahr für Jahr; er wurde so groß, daß er in den Garten in die frische Luft gepflanzt werden mußte, wo der Tau fiel, die Sonne warm hernieder strahlte und er Kräfte bekam, um dem Winter zu widerstehen. Nach des Winters Drangsal war es im Frühjahr gleichsam, als setze er vor Freude Blüten an, und im Herbst trug er zwei Äpfel, einen für Molly, einen für Anton, weniger hätten es auch nicht sein dürfen.

Der Baum war lustig emporgeschossen, und Molly hielt es wie der Baum, sie war frisch wie eine Apfelblüte; aber nicht lange durfte er die Blüte schauen. Die Zeiten wechseln, alles wechselt! Mollys Vater verließ die alte Heimat, und Molly zog mit ihm, weit fort. Ja, in unserer Zeit ist es nur eine Reise von wenigen Stunden, doch damals brauchte man mehr als Nacht und Tag, um so weit östlich von Eisenach, ganz an die äußerste Grenze von Thüringen nach der Stadt, die noch jetzt Weimar genannt wird, zu gelangen.

Und Molly weinte und Anton weinte; – alle die Tränen rannen in einer einzigen Träne zusammen, und diese hatte den rötlichen, lieblichen Schimmer der Freude. Molly hatte ihm gesagt, sie mache sich mehr aus ihm als aus aller Herrlichkeit Weimars.

Es verging ein Jahr, es vergingen zwei, drei Jahre, und in dieser ganzen Zeit kamen zwei Briefe, den einen brachte ein Fuhrmann, den anderen hatte ein Reisender mitgenommen. Sie hatten einen langen, beschwerlichen Weg, mit vielen Umwegen an Städten und Dörfern vorbei, hinter sich.

Wie oft hatten nicht Anton und Molly zusammen die Geschichte von Tristan und Isolde gehört, und ebenso oft hatte er dabei an sich selbst und Molly gedacht, obwohl der Name Tristan bedeuten sollte, daß „er mit Trauer geboren war,“ und das paßte nicht auf Anton. Niemals wollte er auch, gleich wie Tristan, den Gedanken hegen müssen, „sie hat mich vergessen.“ Doch auch Isolde vergaß ja nicht den Freund ihres Herzens, und als sie beide gestorben und einzeln zu beiden Seiten der Kirche begraben waren, wuchsen die Lindenbäume aus ihren Gräbern über das Kirchendach hin und trafen einander dort blühend. Das erschien Anton so schön und doch zugleich so traurig – aber mit ihm und Molly konnte es nicht traurig ausgehen, und deshalb flötete er ein Lied des Minnesängers Walther von der Vogelweide:

„Unter der Linden.
An der Heide.“

Und so besonders schön erklang es darin:

„Vor dem Wald mit süßem Schall
Tandaradei.
Sang im Tal die Nachtigall.“

Die Weise lag ihm immerfort auf der Zunge, und er sang sie und flötete sie in der mondhellen Nacht, als er zu Pferde durch den tiefen Hohlweg ritt, um nach Weimar zu kommen und Molly zu besuchen. Er wollte unerwartet kommen, und er kam unerwartet.

Wohl empfing ihn ein freundliches Willkommen, ein voller Becher Weins, eine muntere Gesellschaft, ja eine vornehme Gesellschaft, eine gemütliche Stube und ein gutes Bett, und doch war es nicht, wie er sich gedacht und erträumt hatte. Er verstand nicht sich, verstand nicht die anderen; aber wir verstehen es. Man kann in einem Hause, in einer Familie sein, und doch nicht festen Fuß fassen, man plaudert miteinander, wie man in einem Postwagen plaudert, kennt einander, wie man im Postwagen sich kennt, geniert einander und wünscht sich selbst oder den guten Nachbar Meilen weit fort. Und so erging es Anton.

„Ich bin ein ehrliches Mädchen,“ sagte Molly zu ihm, „ich will es Dir selber sagen. Vieles hat sich verändert, seit wir als Kinder zusammen waren. Äußerlich und innerlich ist es anders geworden, Gewohnheit und Willen haben keine Macht über unser Herz. Anton. Ich will nicht, daß Du unfreundlich an mich zurückdenkst, jetzt, wo ich bald so weit fort von hier sein werde. Glaube mir, ich werde Dir stets ein gutes Gedenken bewahren, aber geliebt, wie ich nun weiß, daß man einen anderen Menschen lieben kann, habe ich Dich nie. Darein mußt Du Dich finden. Lebe wohl, Anton!“

Und Anton sagte auch Lebewohl; nicht eine Träne kam in seine Augen, doch er fühlte, daß keine Liebe zu Molly mehr in seinem Herzen war. Die glühende Eisenstange wie die gefrorene Eisenstange reißen die Haut mit der gleichen Empfindung für uns von den Lippen, wenn wir sie küssen, und er küßte gleich stark in Liebe wie in Haß.

Nicht einen Tag gebrauchte Anton, um wieder heim nach Eisenach zu kommen, doch das Pferd, das er ritt, war zugrunde gerichtet.

„Was will das sagen“ rief er, „ich bin zugrunde gerichtet, und ich will alles vernichten, was mich an sie erinnern kann. Frau Holle, Frau Venus, Du heidnisches Weib! – Den Apfelbaum will ich zerbrechen und zerstampfen, mit Stumpf und Stiel soll er ausgerissen werden, nie soll er mehr blühen und Frucht tragen!“

Aber der Baum wurde nicht vernichtet; er selbst war innerlich vernichtet und lag fiebernd auf dem Bette. Was konnte ihm wieder aufhelfen? Eine Medizin kam, die es vermochte, die bitterste, die sich finden läßt, um den siechen Körper und die verkrampfte Seele wieder aufzurütteln: Antons Vater war nicht mehr der reiche Kaufmann. Schwere Tage, Tage der Prüfung, standen vor der Tür. Das Unglück wälzte sich heran, in großen Wogen drang es in das einst reiche Haus. Der Vater war ein armer Mann, die Sorgen und das Unglück lähmten ihn völlig. Da hatte Anton an anderes zu denken, als an Liebeskummer und seinen Zorn gegen Molly. Er mußte ordnen, helfen, tüchtig zupacken, selbst in die weite Welt hinaus mußte er, um sein Brot zu verdienen.

Er kam nach Bremen, machte Not und schwere Tage durch; das macht den Sinn entweder hart oder weich, oft allzu weich. So ganz anders waren Welt und Menschen, als er sie sich in seiner Kindheit gedacht hatte! Was waren ihm nun der Minnesänger Lieder: Kling und Klang, leere Worte. Ja, das war seine Meinung zu Zeiten, doch ein andermal klangen ihn die Weisen zu Herzen und ihm ward fromm zu Sinn.

„Gottes Wille ist der beste!“ sagte er dann wohl. „Gut war es, daß der liebe Gott Mollys Herz nicht an mich band. Wozu hätte es wohl geführt, da sich das Glück so gewendet hat. Sie ließ von mir, bevor sie noch etwas wußte oder nur ahnte, daß solch ein Umschlag vom Wohlstand in sein Gegenteil bevorstand. Gott in seiner Gnade hat es so gefügt, und er hat es zum Besten gefügt. Alles geschieht nach seinem weisen Willen. Sie konnte nichts dafür, und doch war ich ihr so bitter feind!“

Und Jahre vergingen. Antons Vater war tot, Fremde wohnten in seinem Vaterhause. Doch Anton sollte es wiedersehen. Sein reicher Herr sandte ihn auf eine Geschäftsreise, die ihn durch seine Geburtsstadt Eisenach führte. Die alte Wartburg stand unverändert droben auf den Felsen, mit den versteinerten Gestalten des „Mönches und der Nonne.“ Die mächtigen Eichen bildeten noch immer den gleichen Umriß, wie in seiner Kindheit. Der Venusberg schimmerte nackt und grau aus dem Tale herauf. Gern hätte er gesagt: „Frau Holle, Frau Holle! Schließ auf den Berg, dann bleibe ich doch im Boden der Heimat!“

Das war ein sündhafter Gedanke, und er bekreuzigte sich. Da sang ein kleiner Vogel aus dem Gebüsch, und das alte Minnelied kam ihm in den Sinn:

„Vor dem Wald mit süßem Schall
Tandaradei.
Sang im Tal die Nachtigall.“

So vieles fiel ihm wieder ein hier, in der Stadt seiner Kindheit, die er durch Tränen wiedersah. Sein Vaterhaus stand wie zuvor, aber der Garten war umgelegt. Ein Feldweg führte über eine Ecke des alten Gartenlandes, und der Apfelbaum, den er damals nicht zerstört hatte, stand noch dort, aber draußen vor dem Garten auf der anderen Seite des Weges. Doch die Sonne beschien ihn noch wie früher, er trug reiche Frucht, und seine Zweige bogen sich unter ihrer Last zu Boden.

„Er gedeiht!“ sagte er, „er kann es.“

Einer von seinen großen Zweigen war abgebrochen; leichtfertige Hände hatten es getan, der Baum stand ja am offenen Fahrweg.

„Man bricht seine Blüten ohne einen Dank, man stiehlt seine Früchte und knickt seine Zweige; hier kann man sagen, wenn man von einem Baume wie von einem Menschen sprechen kann: Es ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er einst so dastehen würde. Seine Geschichte begann so schön, und was ist nun daraus geworden? Verlassen und vergessen, ein Gartenbaum am Graben beim Felde an der Landstraße. Dort steht er ohne Schutz, zerzaust und geknickt. Er verdorrt zwar nicht davon, doch mit den Jahren werden die Blüten weniger, die Früchte bleiben aus und zuletzt – Ja, dann ist seine Geschichte aus.“

Das waren Antons Gedanken dort unter dem Baume, und das dachte er noch manche Nacht in der kleinen einsamen Kammer seiner Holzhütte im fremden Lande in der Kleinhäuschengasse in Kopenhagen, wohin ihn sein reicher Herr, der Kaufmann in Bremen, gesandt hatte unter der Bedingung, daß er sich nicht verheirate.

„Sich verheiraten! Ho, ho“ lachte er so tief und seltsam.

Der Winter war zeitig gekommen, es fror hart. Draußen pfiff ein solcher Schneesturm, daß jeder, der irgend konnte, in seinen vier Wänden blieb. Daher kam es auch, daß Antons Gegenüber es nicht bemerkte, daß sein Laden zwei ganze Tage nicht geöffnet wurde und er selbst sich gar nicht zeigte, denn wer ging aus in dem Wetter, der es nicht mußte?

Es waren graue, dunkle Tage, und im Laden, dessen Fenster ja nicht aus Glas waren, wechselten nur Dämmerlicht und stockfinstere Nacht. – Der alte Anton hatte seit zwei Tagen sein Bett nicht verlassen, er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Das harte Wetter draußen hatte er lange schon in seinen Gliedern gespürt. Verlassen lag der alte Junggeselle und konnte sich nicht helfen; kaum konnte er den Wasserkrug erreichen, den er neben das Bett gestellt hatte; nun war der letzte Tropfen auch ausgetrunken. Es war weder Fieber noch Krankheit, es war das Alter, das ihn lähmte. Es war fast wie eine beständige Nacht um ihn dort oben, wo er lag. Eine kleine Spinne, die er nicht sehen konnte, spann zufrieden und emsig ihr Netz über ihn hin, als sollte hier doch wenigstens ein klein wenig neuer frischer Trauerflor wehen, falls der Alte seine Augen schlösse.

So lang und schleppend leer war die Zeit; Tränen hatte er nicht mehr, Schmerzen auch nicht; Molly lebte nicht mehr in seinen Gedanken. Er hatte ein Gefühl, als versänken die Welt und ihr Treiben vor ihm, als läge er schon außerhalb der Grenze; niemand dachte ja an ihn. Einen Augenblick meinte er Hunger zu fühlen, auch Durst – ja, er fühlte es. Aber niemand kam, ihn zu erquicken, niemand wollte kommen. Er dachte an die heilige Elisabeth, seiner Heimat und Kindheit Heilige, Thüringens edle Herzogin, die hochvornehme Frau, die, als sie noch hier auf Erden wandelte, selbst in die Hütten der Armen stieg und den Kranken Hoffnung und Erquickung brachte. Ihre frommen Taten standen licht vor seiner Seele. Er dachte daran, wie sie für alle, die litten, Worte des Trostes fand, wie sie der Kranken Wunden wusch und den Hungernden Speise brachte, ob auch ihr gestrenger Gemahl ihr darob zürnte. Er entsann sich der Sage, wie einmal, als sie mit ihrem mit Wein und Brot gefüllten Korbe daherkam, ihr Gemahl, der ihre Schritte bewachte, hervortrat und zornig fragte, was sie im Korbe trüge, und wie sie da voller Schrecken antwortete, es seien Rosen, die sie im Garten gepflückt habe, wie er dann das Tuch vom Korbe riß und das Wunder um der frommen Frau willen geschah, daß Wein und Brot, ja alles, was im Korbe lag, sich in Rosen verwandelte.

So lebte die Heilige in den Gedanken des alten Anton, so stand sie leibhaftig vor seinem matten Blick vor dem Bette in der geringen Holzhütte im dänischen Land. Er entblößte sein Haupt, sah in ihre milden Augen, und alles ringsum war voller Glanz und Rosen, die sich immer duftender ausbreiteten. Da drang auch ein lieblicher Äpfelduft zu ihm; ein blühender Apfelbaum streckte seine Zweige über ihn hin, es war der Baum, den er mit Molly einst als kleinen Kern gepflanzt hatte.

Und der Baum streute seine duftenden Blüten auf seine heiße Stirn nieder und kühlte sie; sie fielen auf seine verschmachtenden Lippen und taten ihm wohl wie stärkender Wein und Brot, sie fielen auf seine Brust, und er fühlte sich so leicht, so wohlig wie zum schlummern.

„Nun schlafe ich“ flüsterte er stille; „der Schlaf tut wohl. Morgen bin ich wieder richtig frisch und kann aufstehen. Herrlich, herrlich! Den Apfelbaum, in Liebe gepflanzt, sehe ich in all seiner Pracht.“

Und er schlief.

Am Tage darauf, es war der dritte Tag, seit der Laden geschlossen blieb – der Schnee fegte nicht mehr vom Himmel – suchte der Nachbar nach dem alten Anton, der sich noch immer nicht zeigte. Er lag ausgestreckt, tot, seine alte Nachtmütze fest zwischen die Hände gedrückt. Im Sarge bekam er sie nicht auf, er hatte ja noch eine, rein und weiß.

Wo waren jetzt die Tränen, die er geweint hatte? Wo waren die Perlen? In der Nachtmütze blieben sie – die echten gehen in der Wäsche nicht aus – mit der Mütze wurden sie verwahrt und vergessen. – Die alten Gedanken, die alten Träume sind noch immer in des Junggesellen Nachtmütze. Wünsch sie Dir nicht. Sie würde Dir den Kopf allzu heiß machen, den Puls stärker schlagen lassen, Dir Träume bringen, schwer, als seien sie Wirklichkeit. Das erlebte der Erste, der sie aufsetzte, und doch war es ein halbes Jahrhundert später und der Bürgermeister selber, der mit einer Frau und elf Kindern wohlversorgt zwischen seinen vier Wänden saß. Er träumte sogleich von unglücklicher Liebe, Fallit und Nahrungssorgen.

„Puh! wie die Nachtmütze einheizt!“ sagte er und riß sie vom Kopfe, und es rollte eine Perle und noch eine Perle zu Boden, sie erklangen und leuchteten. „Das ist die Gicht!“ sagte der Bürgermeister, „die mir vor den Augen flimmert!“

Es waren Tränen, vor einem halben Jahrhundert geweint, geweint von dem alten Anton aus Eisenach.

Wer auch später die Nachtmütze aufsetzte, immer bekam er Geschichten und Träume, seine eigene Geschichte verwandelte sich in die Geschichte Antons. Es wurde ein ganzes Märchen, es wurden viele daraus, die mögen andere erzählen. Nun haben wir die erste erzählt, und das ist unser letztes Wort: Wünsche Dir nie des Junggesellen Nachtmütze.

Hans Christian Andersen

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