Das kluge Mädchen – ein Märchen aus Russland

Das Mädchen - ein Märchen aus Russland
Novellen - Kurzgeschichten - Bücher - Daniela Noitz

Es waren einmal zwei Brüder, die zusammen durch die Welt fuhren. Der einen von ihnen war arm, der andere reich und beide hatten ein Pferd, der arme Bruder eine Stute und der reiche einen Wallach.

Eines Nachts standen die beiden Pferde bei einander, als die Stute ein Fohlen warf, das sich unter dem Wagen des Reichen hinlegte. Am nächsten Morgen weckte der Reiche den Armen und sprach: „Wach auf, Bruderherz, heute Nacht hat mein Wagen ein Fohlen bekommen!“ Da stand der arme Bruder auf und sagte: „Wie kommst du darauf, dass dein Wagen das Fohlen bekommen hat. Das war meine Stute!“

Der reiche Bruder widersprach: „Wäre es deine Stute gewesen, so würde das Fohlen bei ihr stehen. Es liegt aber neben meinen Wagen!“ So stritten sie noch lange und wussten schließlich keinen Ausweg, als den Fall vor einen Richter zu bringen, der entscheiden sollte, wem das Fohlen gehörte. Der Reiche jedoch gab dem Richter Geld, der Arme stritt vor dem Gericht nur mit Worten. So kam die Sache vor den König, der beide Brüder zu sich befahl und ihnen vier Rätsel aufgab:

Was ist auf der Welt das stärkste und schnellste?

Was ist das dickste?

Was ist das weichste?

Was ist das liebste?

Für die Lösung der Rätsel gab ihnen der König drei Tage Zeit. Am vierten jedoch mussten sie mit den Antworten zu ihm kommen.

Der Reiche dachte erst sehr lange nach, dann ging er zu seiner Patin, um sie nach der Lösung zu fragen. Er setzte sich zu ihr und aß mit ihr. Nach dem Mahl fragte sie ihn:

„Patensohn, was bist du so traurig?“

„Der König hat mir vier Rätsel aufgegeben und ich habe zur Lösung nur drei Tage Zeit.“

„Sprich, wie lauten die Rätsel?“

„Das erste ist: Was ist auf der Welt das stärkste und schnellste?“

„Das soll ein Rätsel sein? Mein Gemahl hat eine braune Stute. Gibt er ihr die Peitsche, läuft sie schneller als jeder Hase!“

„Das zweite Rätsel ist: Was ist auf der Welt das dickste?“

„Wir mästen seit zwei Jahren ein Fleckenschwein. Es ist schon so fett, dass es nicht mehr aufstehen kann.“

„Das dritte Rätsel ist: Was ist auf der Welt das weichste?“

„Ein Federbett natürlich, was denn sonst?“

„Das vierte Rätsel ist: Was ist auf der Welt das liebste?“

„Das liebste auf der Welt ist mein kleiner Enkel Iwanuschka.“

„Danke, liebe Patin, du hast mir sehr gut geholfen. Das werde ich dir nie vergessen.“

Der arme Bruder jedoch ging nach Hause und weinte. Da kam sein kleines, siebenjähriges Töchterchen zu ihm, sein einziger und ganzer Stolz. Sie sprach: „Vater, warum weinst du?“

„Wie soll ich nicht weinen? Der König hat mir vier Rätsel aufgegeben, die kann ich nie und nimmer lösen.“

„Sag mir, wie lauten die Rätsel?“

„Sie gehen so: Was ist auf der Welt das stärkste und schnellste, was ist das dickste, was das weichste und was das liebste?“

„Vater, das ist doch ganz einfach. Sag zum König: Das schnellste und stärkste ist der Wind, das dickste die Erde, denn alles was wächst, lebt von ihr und ihrer Größe. Weicher aber als alles andere ist die Hand des Menschen, denn egal wo er liegt, die Hand schiebt man noch unter den Kopf. Und das liebste, was es denn auch gibt, ist der Schlaf.“

So gingen die beiden Brüder zum König. Er hörte die Antworten der beiden an und sprach zum Armen: „Hast du die Antworten selbst gefunden oder hat sie dir jemand erzählt?“

„Eure Majestät, mein kleines Töchterchen hat sie mir gesagt.“

„Wenn deine Tochter so klug ist, so gib ihr diesen Faden aus Seide. Bis morgen soll sie daraus ein Handtuch weben.“

Der Arme nahm den Faden und ging traurig nach Hause. „Was für ein Unglück“, sprach er zu seinem Töchterchen, „der König möchte, dass du aus diesem Fädchen ein Handtuch webst!“

„Sei nicht traurig, Vater“ sprach das Kind, brach einen kleinen Zweig von einem Reisigbesen und gab ihn dem Vater.

„Geh zum König und sag zu ihm, er soll jemanden finden, der aus diesem Zweig einen Webstuhl macht, damit ich damit das Handtuch weben kann.“

Der Bauer richtete das dem König aus, dieser jedoch gab ihm 150 Eier und sagte: „Bring die deinem Töchterchen, sie soll mir bis morgen daraus 150 Küken machen.“ Der Arme ging wieder nach Hause, noch trauriger als zuvor. „Ach Töchterchen, das eine Unglück wendest du ab und schon zieht ein neues herauf.“

„Sei nicht traurig, Vater“ sprach da wieder das Töchterchen, kochte die Eier, machte damit ein Mittagsmahl und ein Abendbrot und schickte ihren Vater zurück zum König.

„Sag ihm, die Küken brauchen Hirse, die in einem Tag gewachsen ist. An nur einem Tag muss das Feld gepflügt, die Hirse gesät, gewachsen, geerntet und gemahlen sein. Nur solche Hirse fressen unsere Küklein.“

Der König hörte sich den Vater an und sprach: „Wenn deine Tochter so klug ist, soll sie morgen zu mir kommen.

Nicht zu Fuß und nicht zu Pferd

Nicht nackt und nicht bekleidet

Nicht mit Geschenk und nicht mit leeren Händen“

„Ach Gott“ meinte der heim gekommene Arme, „solch ein Rätsel kann nicht mal mein Töchterchen lösen. Wir sind verloren.“

„Sei nicht traurig, Vater“, sprach da das Töchterchen, „geh zum Jäger und kauf mir dort einen lebenden Hasen und eine lebende Wachtel.“ So ging der Vater hin und kaufte beides für sie. Am folgenden Morgen zog das Mädchen ihre Kleider aus, wickelte sich in ein Netz, nahm die Wachtel in die Hand, setzte sich auf den Hasen und ritt ins Schloss des Königs. Dieser kam ihr schon am Tor entgegen. Sie stieg ab, knickste vor ihm, gab ihm die Wachtel und sprach:

„König, diese kleine Gabe ist für dich.“ Als der König jedoch die Wachtel ergreifen wollte, ließ das Mädchen sie los und sie flog davon.

„Gut“, sprach da der König, „wie ich es befohlen habe, bist du gekommen. Jetzt aber sprich, dein Vater ist so arm, wovon lebt ihr?“

„Mein Vater fängt Fische auf dem Trockenen, ohne Netz im Wasser. Ich trage die Fische an Angelschnüren nach Hause und koche uns beiden daraus Suppe.“

„Was bist du so dumm! Fische leben nicht auf dem Land, sie schwimmen im Wasser!“

„Und Wagen bekommen keine Fohlen! Sondern Stuten werfen sie und so auch unsere Stute das Fohlen meines Vaters!“

So befahl der König, dass das Fohlen der arme Bruder bekommen sollte. Das Mädchen und ihr Vater jedoch nahm er zu sich und sie lebten fortan in seinem Palast. Als das Mädchen jedoch erwachsen wurde, wurde sie Königin.

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