Es ist schon sehr, sehr lange her, da lebte in einem stillen kleinen Ort ein junger Mann mit seiner schönen braven Frau und einem einzigen Töchterchen, das sie sehr lieb hatten. Nun musste einmal der Mann für mehrere Monate verreisen, nach der Hauptstadt, und das war sehr weit, da konnte er die Frau und das Mädchen nicht mitnehmen. Beim Abschied versprach er, etwas recht Schönes von der Reise mitzubringen. Die junge Frau war von ihrem Heimatorte niemals weiter fortgekommen als bis zum nächsten Dorf. So war sie ängstlich in dem Gedanken, dass ihr Mann auf einer so großen Reise war, zugleich aber auch ein bisschen stolz. Denn so weit, bis zu der großen Stadt, wo der Tenno Hof hielt, war bisher noch keiner aus ihrer Gegend gekommen.
Als nun die Zeit um war, die er für seine Reise angegeben hatte, da legte sie für das Kind und für sich zum Empfang des Gatten die allerbesten Kleider zurecht, sie selber zog das schöne blaue Gewand an, das er so gern an ihr sah. Groß war die Freude, als er nun froh und gesund heimkehrte, als er anfing zu erzählen und dabei die schönen Sachen auspackte, die er mitgebracht hatte.
„Etwas ganz Wunderbares habe ich hier für dich“, sagte er zu seiner Frau. “ Es heißt Kagami. Schau einmal hinein und sage mir, was du darin erblickst.“ Ein Kagami hatten sie in dem kleinen Nest, diesem Erdenwinkel so ganz abseits der großen Welt, noch nie zu sehen bekommen, die junge Frau hatte überhaupt keine Ahnung davon, was das war. Sie machte den weißen Holzkasten auf, den er ihr lächelnd hinhielt; es war eine runde Metallplatte darin, auf der Oberseite aus ziseliertem Silber sah sie allerlei Figuren, Vögel und Blumen; aber als sie die Platte nun umdrehte, da war die andere Seite ganz klar blank und glatt und zeigte ihr eine wunderhübsche junge Frau mit rosigen Lippen und strahlenden Augen, die ihr lächelnd zunickte, die Lippen bewegte, als ob sie zu ihr spräche und merkwürdigerweise dasselbe, genau dasselbe blaue Gewand anhatte wie sie selber, die Besitzerin des Spiegels. Dem jungen Manne war das ein unbezahlbares Vergnügen, wie sie so überrascht und erstaunt in das Kagami hinein sah; gerade so war es ihm ja auch gegangen. Und er belehrte sie nun darüber, dass es das eigene Ebenbild sei, was man in dem Spiegel sehe; in der Stadt habe jeder so ein Ding, nur in solche weltfernen Nester wie das ihre sei es zuvor nicht gekommen.
Die junge Frau war überglücklich über das Geschenk, und man kann es nicht zählen, wie oft sie in den nächsten Tagen in das Kagami hineinschaute. Aber bald hatte sie das Gefühl, so etwas sei zu schade für den täglichen Gebrauch, und es sei nicht gut, viel hineinzusehen. Sie schloss es wieder in den weißen Kasten und verwahrte den sorgsam bei ihren anderen Kostbarkeiten.
Die Jahre vergingen, das Töchterchen wuchs heran, es wurde mehr und mehr das rechte Ebenbild seiner Mutter, die Eltern hatten große Freude an ihm. Wenn die Mutter jetzt an das Kagami dachte, dann zugleich mit dem Wunsch, dass in ihrem Kind niemals Eitelkeit erwache, wenn es etwa in dem Spiegel gewahr werde, wie schön es sei. So verschloss sie ihn von nun an noch sicherer und sprach niemals von ihm, ebenso wie er dem Vater ganz aus dem Sinn kam. Die Tochter wuchs in derselben Herzenseinfalt auf wie einst die Mutter und wusste nicht, wie sie aussah.
Nun aber geschah es, dass die Mutter schwer krank wurde; die Tochter pflegte sie mit der größten Liebe und Sorgfalt, aber es wurde nicht besser. Die Krankheit verschlimmerte sich zusehends. Als nun die Frau ihr Ende nahe sah, holte sie mit viel Mühe das Kagami aus seinem Versteck, rief ihre Tochter zu sich und sagte: „Liebes Kind, du weißt ja, ich werde bald sterben, ich werde dann von diesen Leiden, die mich jetzt quälen, erlöst sein. Wenn das geschehen ist, so sollst du jeden Morgen und jeden Abend in dieses Glas hineinschauen, das musst du mir versprechen. Du wirst mich darin sehen, und du wirst dann wissen, dass ich immer in eurer Nähe bin und immer über dich wache.“
Das Kind gab der Mutter unter Tränen das Versprechen, und die Frau, über das Schicksal der Ihren nun ein wenig beruhigt, starb kurze Zeit darauf.
Das junge Mädchen hielt die Worte seiner Mutter heilig, und jeden Morgen und jeden Abend nahm sie den Spiegel von seinem verborgenen Platze hervor und schaute lange hinein. Da sah sie das lächelnde Gesicht ihrer Mutter – nicht so blass und abgezehrt wie in der letzten Zeit, da sie krank war; sondern wieder die schöne, heitere, blühende junge Mutter vergangener glücklicher Tage! Und alle Abend erzählte die Tochter dem Bilde im Kagami, was sie am Tage getan und erlebt hatte, alle ihre kleinen Sorgen und Kümmernisse, und alle Morgen bat sie um den Segen und Beistand der Mutter, dass ihr Tagwerk gelingen möge.
So artete sie täglich in all ihrem Tun immer mehr nach der Mutter, indem sie bei allem, was sie tat, daran dachte, wie es ihr gefallen und ob sie sich darüber freuen würde. Und wenn sie einmal abends dem Spiegelbild sagen konnte: „Heute war ich gerade so, wie du mich hast haben wollen“, dann lächelte das Spiegelbild glücklich.
Der Vater nahm mit Erstaunen wahr, wie seine Tochter morgens und abends mit so merkwürdigem Gebaren in den Spiegel sah, und befragte sie eines Tages darum. Da sagte ihm die Tochter, dass sie jeden Tag in diesem Glas die verstorbene Mutter sehe und ihr alles sage, was sie auf dem Herzen habe. Und sie erzählte ihm, was sich die Mutter von ihr auf dem Totenbette habe versprechen lassen, und fügte hinzu, dass sie dieses Versprechen niemals vergessen habe. Da scheute sich der Vater, im Gedanken an seine liebe Frau und im innersten Herzen bewegt von der Unschuld und Herzensreinheit des Kindes, ihm zu sagen, dass es nicht das Antlitz der Mutter sei, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, sondern das Abbild des eigenen lieben Gesichtes. Er verschwieg, was er von der Eigenschaft des Kagami wusste.
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